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23. Januar 2006. Analysen: Geschichte & Religion - Indien Shakti – ein "queeres" Askesekonzept

Skizzen zu religiösen Gender-Vorstellungen innerhalb einer asketischen Religion (Mahima Dharma) in Orissa/Ostindien

Während queer studies schon seit einiger Zeit ein wichtiger Bestandteil neuerer Gender-Forschungen im englischen und deutschsprachigen Raum sind, bereichert gerade auch der Blick nach Südasien die Suche nach der Diversität von Gender-Kategorien. Am Beispiel eines gegenwärtigen Asketenordens im Osten Indiens (Mahima Dharma) beschäftigt sich der vorliegende Bericht mit dem kulturellen und religiösen Geschlecht indischer Asketen. Dieses entzieht sich binären Geschlechtszuschreibungen und könnte am ehesten als Konzept der Androgynität beschrieben werden. Die Kategorie der sozialen und religiösen Androgynität (oboyolinga) verweist dabei auf ein bekanntes indisches Muster von Heiligkeit, das sich in vielen Mythen wiederfindet. Auch hinsichtlich ihrer optischen Erscheinung vermischen sich bei den Asketen männliche und weibliche Attribute zu einem androgynen Körper. Der biologisch männliche Körper verschmilzt mit den weiblichen Attributen der langen offenen Haare. Eine Oberkörper-Athletik vermengt sich mit der Schwangerschaftsästhetik wohlgenährter Bäuche. Mahima Dharma Asketen sind – wie ihre Anhänger es über sie sagen – "mata und pita [Vater und Mutter] zugleich". Sie sind gleichzeitig männliche und weibliche Träger der göttlichen Kraft. Als Androgyne gehören sie, so die Autorin Lidia Guzy, in der indischen Vorstellungswelt zu den Repräsentanten des Göttlichen.

Seit geraumer Zeit stellen queer studies einen wichtigen Bestandteil neuerer Gender-Forschungen[1] im englischen und deutschsprachigen Raum. Eine Bereicherung in der Suche nach der Diversität von gender-Kategorien kann der Blick auf den südasiatischen Kontext erwirken. Am Beispiel eines gegenwärtigen Asketenordens im Osten Orissas (Mahima Dharma) beschäftigt sich der vorliegende Bericht mit dem kulturellen und religiösen Geschlecht indischer Asketen. Dieses entzieht sich dabei binären Geschlechtszuschreibungen und könnte am ehesten als Konzept der Androgynität beschrieben werden.

Die indische Askese

" ... bedeutet Zölibat, körperliche Selbstqual, Wanderschaft, Bettelwesen und eine spezielle Ernährungsweise. Es ist eine ritualisierte Form des Einstiegs in die Transzendenz und des Ausstiegs aus der Gesellschaft"[2], definiert A. Michaels und listet somit die wichtigsten Charakteristika auf. Indische Askese ist der strikte Vollzug religiöser Regeln, der mit Gelöbnissen verbunden ist und den Asketen gegenüber Nicht-Asketen aus dem Diesseits überhöhen soll. Askese im indischen Kontext bedeutet auch die Akkumulation der kreativen Substanz, die sich in der Fortpflanzungsfähigkeit des Menschen manifestiert und sich durch die Kontrolle dieser potenzieren lässt. Es ist "tapas"- die "Glut", "Hitze" oder "Tugend"[3] - welche durch eine ritualisierte, zölibatäre Lebenspraxis gesammelt werden kann und einen "Zauber", d.h. eine Wirkmächtigkeit auf die Welt, freisetzt. Mittels einer langwierigen Disziplin des Körpers und einer Konzentration auf dessen kontrollierte Körperfunktionen versuchen Asketen das Körperliche zu transformieren. Die transformierte Sexualität, die von biologischen Schöpfungseffekten zurückgehalten wird, ermöglicht Spezialisten den Zugang zu wirklichkeitsschaffenden Leistungen in den Augen der Gläubigen. Für ihre Anhänger können Asketen Prophezeiungen aussprechen, weissagen, hellsehen, Kranke heilen und sogar Tote zum Leben erwecken. An der unterschiedlich üppig verfilzten Haarpracht der heiligen Männer manifestieren sich sowohl der Erfolg ihres Heilstrebens als auch die Wirkdimension ihrer transformierten sexuellen Energie. Am wilden Haar der Hindu-Asketen im Gegensatz zu geschorenen Köpfen buddhistischer Asketen oder Jainas wird in hinduistischer Askese die Non-Dualität von Sexualität und Zölibat sichtbar.[4]

Indische Asketen, die sich im Sinne Webers als "religiöse Virtuosen"[5] beschreiben lassen, erlangen durch die Beherrschung ihres Geistes und Körpers schon während des Lebens eine übermenschliche Akrobatik der psychologischen und mentalen Kräfte. Mit den Worten J. G. Frazers gesprochen, sind sie graduell zu "Fleisch gewordene menschliche Götter" oder "Gottmenschen"[6] und können deshalb Fähigkeiten außergewöhnlicher (übermenschlicher) Art entwickeln.

Indische Asketen werden in der Literatur auch als "sozial Tote" oder "lebendige Phantome"[7] betrachtet. In den Augen der Gläubigen haben sie schon während des physischen Lebens die höchste Stufe der religiösen Erlösung von den Wiedergeburten – moksha – erreicht. Im wissenschaftlichen Jargon seit der Analyse L. Dumonts[8] wird ein indischer Asket als "Individuum außerhalb der Welt" (individu hors le monde) im Gegensatz zum Menschen "in der Welt" – also dem Menschen des Kastenwesens[9] verstanden. Asketen verlassen demnach die Welt der Kaste, indem sie der gesellschaftlichen Institution der Heirat entsagen. Die indische Weltentsagung in der Figur des Weltentsagers (samnyasin) operiert einerseits als Opposition zum Kastensystem, andererseits stellt die Weltentsagung das höchste Ideal der Erlösung (moksha) dar und begründet somit auch die Legitimität der sozio-religiöse Ordnung des Kastensystems. Hier sehen wir die Paradoxie der indischen Askese: es ist die Kritik und gleichzeitige Konfirmation gesellschaftlicher und religiöser Werte!!!

Ašrama - das Modell der vier Lebensstufen

Die Paradoxie der indischen Askese im gesamtgesellschaftlichen Kontext des hierarchischen Kastensystems des Hinduismus ist im klassischen Modell der vier Lebensstufen (ašrama) der brahmanischen Rechtsliteratur eingebettet. Hier wird Askese als Ziel des reifen Lebens und schließlich als Altersziel entwickelt. Die Lebensphasen gelten hierbei im strikten Sinne nur für die Kategorie der Brahmanen[10].

Die erste Stufe eines Brahmanen ist, Schüler – brahmacarin – zu sein und die heiligen Schriften einzuüben. Mit der Heirat beginnt die zweite Lebensstufe des Daseins als Haushälter – grhastha – in der ein Brahmane als Priester und als Hausvater fungiert. Erst im fortgeschrittenen Alter beginnt die Lebensstufe des Weltverzichts, der Askese. Erblickt ein Familienvater die eigenen grauen Haare und die Söhne der eigenen Söhne, so die Schriften, dann ist die Zeit gekommen, die Familie zum höheren Heilszweck zu verlassen. Ein Leben als Waldeinsiedler – vanaprastha – kann beginnen[11]. Die schwierigste und letzte Phase besteht schließlich in den Bettelwanderungen des greisen Asketen – samnyasin – der auf die endgültige Erlösung von den Wiedergeburten. Das Modell der vier Lebensstufen stellt dabei einen idealen Lebensablauf dar, in dem alle Lebensphasen von gleich großer Wichtigkeit sind und nur aus der vorgegebenen Chronologie heraus in das höchste Ideal der Wander- und Bettelaskese kulminieren können.

Die klassische Idee der indischen Askese ist im brahmanischen Lebensmodell eingebettet, d.h. sie ist 1) traditionell nur den Brahmanen vorbehalten und 2) nur im Alter zugänglich. Dass mit dem Ideal der Weltablehnung im späten Alter ein mögliches revolutionäres – da individualistisches und jugendliches – Potenzial auf ein (womöglich schon geschwächtes) Lebensende abgefangen wird, ist offensichtlich (dies hat insbesondere U. Schneider[12] betont).

Gegenwärtig lässt sich eine Vielfalt asketischer Traditionen in Südasien beobachten.[13] Die Popularität heilender, wirkmächtiger heiliger Männer – babas – steigt, wie beispielsweise die überfüllten ashrama von Satya Sai Baba, beweisen.[14]

Immer mehr selbsternannte Repräsentanten der höchsten sozio-moralischen Kategorie samnyasin (Asket) verlassen die Welt ihrer Familie, um sich als von Gott Berufener einem asketischen Lehrmeister (guru) anzuschließen. Mittlerweile versuchen viele Männer[15] – gleich welchen Kastenursprungs – dem brahmanischen Ideal der Askese nachzueifern. Viele, die ihr eigenes Haar ergrauen sehen, verspüren das Bedürfnis, die weltlich-familiären Angelegenheiten zu verlassen. Eine nicht geringe Zahl sozialflüchtiger älterer Männer verlässt ihre Familien, um auf Pilgerfahrten und auf die Heilssuche zu gehen. Auf diese Weise verlassen die sich selbst als ‘heilig’ berufen Fühlenden die Familien und sterben oft in Pilgerstätten, fern ihrer Familien.

Viele, die jung sind, über die Gesellschaft nachdenken und zudem nicht heiraten wollen, gesellen sich zu asketische Gemeinschaften, zu denen etwa Mahima Dharma gehört, um dort einen asketischen Lebensweg auszuprobieren. Askese im modernen (gegenwärtigen) Kontext ist eine ideale Kategorie geworden, die sich als abstrakter Idealtypus vom sozio-religiösen brahmanischen Kontext losgelöst zeigt. Die Ideen und Praxis von Askese diffundieren in die indische Alltagswelt und so wird es möglich, dass jeder Asket werden kann und das jeder ein alternatives Konzept von Geschlecht im Rahmen einer asketischen Gemeinschaft erfahren kann.

Askese der Mahima Dharma-Lehre

Mahima Dharma, wörtl. "das glorreiche dharma[16]", ist eine im 19 Jhr entstandene asketische Religion und Lehre Orissas/Ostindiens, die auf den Religionsstifter Mahima Gosvami zurückgeht. In ihrer Selbstdefinition positioniert sich die Lehre gegen die brahmanische Vorherrschaft, gegen die brahmanischen Rituale, gegen den Polytheismus des Hinduismus und gegen das Kastensystem. Diese Lehre und Religion zeichnet sich durch eine streng organisierte Mönchsorganisation und eine Laiengemeinschaft aus. Der Mönchsorden teilt sich in zwei Bruderschaften, die Balkaldhari und die Kaupinadhari. Die Bruderschaften sind um ein Netzwerk von lokalen Zentren organisiert, deren regulierende Ritual und Verwaltungsstelle die heilige Stadt Joranda in Dhenkanal (Zentralorissa) ist.

Die Khaupindhari-Asketen und jüngere Balkaldhari tragen einen Schurz aus gerua-gefärbter Baumwolle, die zwischen den Beinen durchgezogen und an einem geflochtenen Gürtel befestigt ist. Älteste Asketen der Balkaladhari-s, auch Kumbhipata genannt, tragen die gleiche Form des Schurzes, nur aus der Rinde des Kumbhi-baumes.

Ein weiteres Erkennungszeichen der Asketen sind die großen Schirme aus einem Palmblatt als Schutz gegen Sonne und Regen[17].

Die Laienanhänger (bhaktas) von Mahima Dharma sind vor allem unter der bäuerlichen Bevölkerung Orissas verbreitet. Seit kurzem ist eine erhöhte Popularität der asketischen Lehre unter den Niedrigkastigen (Scheduled Castes[18]) und unter der indigenen Bevölkerung Orissas zu verzeichnen.[19] Seit den 60er Jahren missioniert diese asketische Tradition in den Stammesgebieten Indiens.

Es gibt keine offiziellen Statistiken über die Anzahl der Anhänger (bhaktas) und Asketen (babas). Gemäß informellen Informationen leben ungefähr 100 Asketen permanent in Joranda, weitere 900 wandern beständig von einem Zentrum zum anderen. In Joranda sind nach Einschätzungen von Asketen über 10.000 Menschen als bhakta registriert und somit für die Existenzerhaltung der babas und die Finanzierung der mönchischen Zentren verantwortlich.[20] Man kann von weniger als einem Prozent der Gesamtbevölkerung Orissas ausgehen, das sich als Anhänger der Mahima Dharma-Religion definieren lässt.[21]

Religiöse Konzepte

Die Asketen verehren Mahima Alekh (a-lekh) als den einzigen und alleinigen Gott, der weder beschreib- (a-lekha[22]) noch abbildbar ist. Gott ist für sie sunya – die Leere, das Nichts und zugleich Alles. Für die Laienanhänger stellt Gott Alekh dagegen nicht den einzigen, sondern den höchsten aller Götter dar. In Form von Alltagsritualen (puja) huldigen die Laien neben Mahima Alekh auch anderen Gottheiten, die alle unter dem Gesamtbegriff Bhagvan, Probhu, Mapuro[23] oder Brahma subsumiert werden. Das Gottesbild ist für die Asketen ein monotheistisches[24], während es aber für die Laien eine henotheistische[25] Charakteristik aufweist.

Der Wert der Askese ist bei der Mahima Dharma-Lehre von zentraler Bedeutung. Ich benutze den Begriff im Sinne eines abstrakten Begriffs für kulturelle Phänomene der kontinuierlichen Verzichtsleistungen. Vom altgriechischen "áskesis" abgeleitet, bedeutet Askese im primären griechischen Sinne "Übung" "sich befleißen, sich in etwas üben" und bezieht sich auf die körperliche Disziplinierung und Ertüchtigung durch Gymnastik und Athletik.

Genau in diesem Sinne wird Askese für den Mahima Dharma-Kontext in Form von nyam verstanden: nämlich als ein Regelwerk von Verzichtsgeboten und Verboten, es bedeutet eine extreme Disziplinierung des Körpers und des Geistes.

Asketenkodex

Ein Asket ist ein Mann, der als junger Mann nach einem Eintritt in den Mahima Dharma-Orden und nach ca. 15 jährigen Lehr- und Wanderjahren in den Orden durch das Ablegen von asketischen Gelübden initiiert wurde (dikhya[26]).

Die Verhaltensregeln der Asketen sind:

  • Zölibat
  • Verbot der Bilderverehrung
  • vegetarische Kost
  • tägliche Gebetsübungen (darshana)[27] siebenmal vor Sonnenaufgang und fünfmal vor Sonnenuntergang
  • Verbot des Essens nach dem Sonnenuntergang
  • nur eine Essensgabe (vikhya) von einem Anhänger (bhakta) pro Tag (beinhaltet eine Reismahlzeit); trockene Zwischenmahlzeiten wie Nüsse, Puffreis oder Tee mit Keksen können über den Tag hindurch angenommen werden, ohne die Regel zu brechen
  • Verbot, sich länger als eine Nacht in einem Dorf aufzuhalten (Keine Regelverletzung ist, wenn man mehrmals in der Umgebung des Dorfes nächtigt)
  • die rituelle Verpflichtung, Feuer-Rituale (jagia) für das Wohl der Gesellschaft durchzuführen

Asketen dürfen sich an nichts emotional binden, nichts von ihrem Privatleben, das sie vor dem Ordenseintritt geführt haben, erzählen. Sie dürfen weder Gut noch Geld besitzen, nicht an ihren Ursprungsort zurückkehren, sich nur zu Fuß fortbewegen und nur von Baumblättern (bevorzugt Bananenblättern) essen.

Shakti – Die Wirkmächtigkeit von Mahima Dharma-Asketen

In den Augen ihrer Gläubigen können Asketen des Mahima Dharma-Ordens übermenschliche Fähigkeiten erlangen: die Hervorrufung des Regens, die Fruchtbarmachung Kinderloser, Wahrsagen, Feststellen günstiger Zeitpunkte für die Heirat, Orakelbefragungen und Glückssegnungen. Die Anhänger sind sich einig: all diese Fähigkeiten entspringen einer Quelle: es ist shakti (Kraft; Wunderkraft). Shakti wirkt sich in unterschiedlicher Form wohltuend auf die Menschen aus. Shakti gewinnen die Asketen des Mahima Dharma-Mönchsordens nur durch die Disziplin ihres Körpers und ihres Geistes, in dem sie das absolute Zölibat leben. Sie heiraten nicht, verlassen Vater und Mutter und ziehen auf die Wanderschaft, um der Weltlichkeit zu entfliehen. Nur die Beherrschung der Sexualität und die Schulung des Geistes vermögen ihre schöpferischen Potentiale in eine metaphysische Richtung zu transzendieren.

Die Asketen, denen shakti innewohnt, lassen sich als eine Art metaphysische Athleten beschreiben. Durch ihre Disziplin und die asketischen Übungen schaffen sie für ihre nichtasketischen Zeitgenossen das Unmögliche: sie lösen sich von der menschlichen Phantomwelt. Nur sie werden, wie einst Mahima Gosvami – der im Guru der Asketentradition inkarnierte Gott Mahima Alekh – ihr Dasein aushauchen und selbst zur Leere werden. Vielfach versicherten mehrere Asketen unabhängig voneinander, dass das einzige Mittel, der Kette des Lebens zu entkommen und shakti zu erlangen, darin bestehe, der zentralen gesellschaftlichen Kette – der Heirat – zu entsagen. Nur in der Disziplin des Zölibats könne der Weg der Befreiung eingeübt werden und shakti , die heilige Kraft, entstehen.

Askese bedeutet so für die religiösen Spezialisten der Mahima Dharma-Lehre demnach ein zentrales Vergöttlichungsmoment, da durch die Akkumulation von shakti Asketen Göttern gleichen.

Asketen – Androgynität – shakti

Mahima Dharma Asketen leben zölibatär und entziehen sich somit der normativen Rolle des indischen Mannes, ein Ehegatte und Haushaltsvorstand zu sein. Geht man von der Argumentation der sozialen Konstruktion des biologischen Geschlechts innerhalb der Kultur aus[28], so stellt sich die Frage, welches Geschlecht Mahima Dharma-Asketen haben.

Durch die Abwesenheit der Kategorie der Heirat heben Asketen eine zentrale gesellschaftlich geschlechtliche Zuschreibung auf: Sozial sind sie durch die Ablehnung der Heirat keine Männer mehr. Sie stellen ein eigenes kulturelles und religiöses Geschlecht dar, das jegliche Eindeutigkeiten auflöst. Sie sind babas, Asketen. Mit ihrer eigenen sprachlichen Metapher beschreiben sie sich als "Kinder" (pila chua)[29], die keine geschlechtlichen Gedanken besitzen und nur auf Gott vertrauen.

Konzentriert man sich bei Mahima Dharma-Asketen auf ihre optische Erscheinung, so vermischen sich männliche und weibliche Attribute zu einem androgynen Körper. Der biologisch männliche Körper verschmilzt mit den weiblichen Attributen der langen offenen Haare. Eine Oberkörper-Athletik vermengt sich mit der Schwangerschaftsästhetik wohlgenährter Bäuche.

Lange, ungebändigte Haare gelten im hinduistischen Kontext zum einen als erotisches, weibliches Attribut, zum anderen als Sitz der Götter. Gebundenes Haar der Frauen symbolisiert soziale Kontrolle, ungebändigtes, verfilztes Haar der Asketen signalisiert die konzentrierten religiösen Kräfte und die Überwindung des Sozialen durch die Weltentsagung[30].

Mit Frauen kommunizieren babas unbefangen, mit Asketenbrüdern zärtlich. Ihr Attribut ist der Bananenbaum (koduli gocho), von deren Blättern sie speisen. Babas erklärten mir, dass dieser wie das Universum brahmananda beidgeschlechtlich (oboyolinga) – männlich und weiblich zugleich – sei. Die Verbindung beider Geschlechter in der zölibatär lebenden Person eines Asketen wird in der ganzjährlichen Fruchtbarkeit des koduli gocho symbolisiert. Der Bananenbaum repräsentiert eine Analogie der beidgeschlechtlichen shakti-Kraft der Asketen.

Es liegt nahe, shakti der Mahima Dharma-Asketen als eine rituelle Feminisierung der Asketen zu verstehen. Eine geschlechtliche Neutralisierung durch shakti hebt zum einen das soziale Geschlecht der Asketen auf, zum anderen stattet shakti Asketen gleichzeitig mit den Wirkungskräften des anderen Geschlechts aus! Durch shakti werden Asketen androgyn. Die feminisierten männlichen Asketen inkorporieren so die Kräfte der Göttin, überwinden aber auch gleichzeitig die Kontrolle der Gesellschaft, in dem sie sich selbst kontrollieren. Das Praktizieren des Zölibats stellt für die Asketen einen Erlösungsweg von den sozialen Geschlechterrollen und Kontrollen dar.

Auf der Matrix ihrer asketischen Verhaltenscharta agieren Mahima Dharma-Asketen als Androgyne. Die Kategorie der sozialen und religiösen Androgynität (oboyolinga ) verweist dabei auf ein bekanntes indisches Muster von Heiligkeit[31], das sich in vielen Mythen wiederfindet.

Die Neutralisierung des sozialen Geschlechts bei Mahima Dharma-Asketen, die die Androynisierung der Asketen führt, konstruiert gleichzeitig die Außeralltäglichkeit und Heiligkeit von Asketen. Mahima Dharma Asketen sind – wie ihre Anhänger es mehrmals über sie sagten – "mata und pita (Vater und Mutter) zugleich". Sie sind gleichzeitig männliche und weibliche Träger der göttlichen Kraft. Als Androgyne gehören sie in der indischen Vorstellungswelt zu den Repräsentanten des Göttlichen.

Shakti und die Essensspendung (vikhya)

Shakti vermittelt sich am direktesten durch die Bettelgabe der Essensspendung von Asketen auf ihre Anhänger. Dem Essensakt sprechen Asketen eine hohe Zentralität zu. Der Körper stellt dabei den Ort eines inneren Feuers dar, das als shakti bezeichnet wird. Shakti transformiere dann die Opfergaben der Essensspender zu reinigenden, wohltuenden Kräften des gesellschaftlichen und jenseitigen Universums. In diesem Zusammenhang ist es überhaupt kein Widerspruch, eine körperliche Üppigkeit von Mahima Dharma-Asketen zu konstatieren. Im Gegenteil: die großen Bäuche symbolisieren eine enorme kosmische Transformationskapazität und demnach viel wohlspendende göttliche shakti-Kraft.

Es liegt nahe, Essensgaben der Anhänger an die Asketen als Essensopfer an Gottmenschen zu interpretieren. Der mikrokosmische Körper der Asketen repräsentiert dabei Schauplatz makrokosmischer, göttlicher Transformationsprozesse.

Shakti und Heilung

Die shakti-Kraft von Mahima Dharma-Asketen wirkt im Glauben der Dorfbevölkerung als Medizin. Sie vermag Leiden wie Bauchschmerzen, Kopfschmerzen, sowie psychische und mentale Labilitäten zu lindern. Die Nähe zur shakti-Kraft der Asketen durch ein Gespräch, eine Segnung oder eine mögliche Berührung durch Handauflegen wirkt dabei heilspendend. Im Falle des shakti-Konzepts heilt die vorgestellte Heiligkeit.

Zusammenfassung

Heiligkeit und Askese im Kontext des Mahima-Dharma-Ordens und ihrer Asketen ist ein queeres Konzept zu normativen Sozialstrukturen des Hinduismus. Die mit Androgynität kulturell konnotierte Askese der Mahima –Dharma – Mönche schafft ein neues sozio-religiöses Geschlecht von Asketen. Diese sind weder Männer noch Frauen. Sie haben ihr biologisches Geschlecht transzendiert und können im Rahmen des religiösen Ordens und als "Götter auf Erden" alternative Lebensformen und Geschlechterkonzepte leben.

Anmerkungen

[1]Etwa: Salin, Sara and Judith Butler 2004, The Judith Butler Reader, Blackwell Publishers; Hark, Sabine 1999, Deviante Subjekte. Die paradoxe Politik der Identität, Leske Budrich Verlag: Oplaten; Beemyn, Brett and Eliason Mickey (Hg) 1996, Queer Studies, A Lesbian, Gay, Bisexual and Transgender Anthology. New York University Press; Browning, Frank 1998. Queer Geography, Journeys Toward a Sexual Self . Nooday Press; LeVay, Simon 1996, Queer Science. The Use and Abuse in Research into Homosexuality. Massachussetts Institute of Technology.

[2] Michaels, A. 1998. Der Hinduismus. Geschichte und Gegenwart, München C.H. Beck, 347.

[3] Vgl. Schneider, U. 1989. Einführung in den Hinduismus, Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft, 64.

[4] Vgl. Obeysekere, G. 1981. Medusa’s Hair, Chicago/London: The University of Chicago Press, 38.

[5] Weber, M. 1972 (1922). Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), 327; vgl. das ganze Kapitel V: ‘Religionssoziologie. Typen Religiöser Vergesellschaftung’ (S. 245-381).

[6] Frazer, J.G. 1989 (1922). Der Goldene Zweig, Reinbeck bei Hamburg: Rororo, 131-135.

[7] Vom Vergleich zwischen einem samnyasin und einem Geist der Toten (preta) spricht Sprockhoff, G. 1980. ‘Die Feindlichen Toten und der Befriedete Tote’, in G. Stephenson (ed.), Leben und Tod in den Religionen. Symbol und Wirklichkeit, Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft, 263-284.

[8] Dumont, L. 1986 (1966).‘Appendice B. Le Renoncement dans les religions de l`Inde’, in L.Dumont, Homo Hierarchicus, Le Système des Castes et Ses Implications, Paris Gallimard, 324-350.

[9] Dumont 1986 (1966): Appendice B.

[10] Vgl. Biardeau, M. 1981. Études de Mythologie Hindoue. Tome I Cosmogonies Puraniques, Paris: École Française d`Exrême Orient, 130 (Fußnote 1); Ainslee T. Embree dagegen betrachtet das Modell von den vier Lebensstufen als ein brahmanisches Modell, das auf alle vier varna-Kategorien zutrifft, vgl.: Embree, A.T. (ed.) 1988. Sources of Indian Tradition. Volume One. From Beginning to 1800, New Delhi: Viking by Pinguin Books India, 215.

[11] Vgl. Schneider, U. 1989. Einführung in den Hinduismus, Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft, 79.

[12] Schneider, U. 1989. Einführung in den Hinduismus, Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft, 78.

[13] Zur Vielfalt gegenwärtiger asketischer Traditionen in Südasien: Ishwaran, K. (ed.) 1999. Ascetic Culture: Renunciation and Worldly Engagement, in JAAS- Journal of Asian and African Studies Vol. XXXIV, (1).

[14] Zu Satya Sai Baba siehe: Poggendorf-Kakar, K. 1999. Der Gottmensch aus Puttaparthi. Eine Analyse der Sathya Sai-Baba-Bewegung und Ihrer Westlichen Anhänger, Hamburg: Dr. Kovač.

[15] Für Frauen gilt die Popularisierung der Askese nur bedingt, da Wanderaskese für Frauen in der indischen Gesellschaft weitaus schwieriger zu verwirklichen ist, als für Männer (siehe Ausführungen zur weiblichen Askese). Aus diesem Grund spreche ich hier nur von Männern innerhalb des "Baba-isierungsprozesses".

[16] Sozio-religiöses Konzept der südasiatischen Ethik. Der höchst polyseme Begriff, der permanenten Bedeutungsänderungen unterworfen ist, kann grob mit Religion, sozio-religiösem Recht, einer sozio-moralischen Ordnung und Pflicht, aber auch mit rechtmäßiger Herrschaft (Königtum) übersetzt werden. Zur umfassenden Diskussion des Konzeptes dharma siehe etwa: O`Flaherty, W.D.; Derrett, M. Duncan J. (eds.) 1978. The Concept of Duty in South Asia, SOAS: Vikas Publishing House. Daraus besonders: Kunst, A.: ‘Use and Misuse of Dharma’ (S. 3-17); Derrett, M. Duncan J. ‘The Concept of Duty in Ancient Indian Jurisprudence: The Problem of Ascertainment’ (S. 18-65); Heesterman, J. ‘Veda and Dharma’ (S. 80-95) und O`Flaherty, D. W. ‘The Clash between Relative and Absolute Duty: The Dharma of Demons’ (S. 96-106). Im Neohinduismus erfährt der Begriff viele neue Bedeutungswandlungen, dazu siehe Halbfass, W. 1980. Indien und Europa, Basel/Stuttgart: Schwabe & Co Verlag, 358-402.

[17] Eschmann, A. 1986 (1978). ‘Mahima Dharma: An Authochtonous Hindu Reform Movement’, in A. Eschmann, H. Kulke, G.C. Tripathi (eds.), The Cult of Jagannath and the Regional Tradition of Orissa, Manohar: New Delhi, 383.

[18] Die Begriffe Scheduled Caste und Scheduled Tribe Klassifikationen der indischen Administration, die seit 1947 die soziale und kulturelle Bevölkerungsvielfalt Indiens in klare Kategorien zu fassen sucht. Diese Kategorien entsprechen nicht immer den tatsächlichen sozialen Gegebenheiten. Zur Problematik und zum Konstruktionscharakter der administrativen Kategorien siehe Cohn, B. 1990 (1987). ‘The Census, Social Structure and Objectification in South Asia’ , in ibid, An Anthropologist Among the Historians and Other Essays, Delhi: Oxford University Press, 224-254.

[19] Tribal Research Bureau (T. R. B.) [ Die Autoren sind schwer zu eruieren, deswegen wird im Folgenden das Kürzel benutzt ] 1968-9. ‘Impact of Satya Mahima Dharma on Scheduled Castes and Scheduled Tribes in Orissa’, in ADIBASI Vol X, No. 1, 44-76; Eschmann, A. 1975. ‘Spread, Organisation and Cult of Mahima Dharma’, in S. N. Senapati, Satya Mahima Dharma, Cuttack: Dharma Grantha Store, 9-22.

[20] Informelle Informationen von Asketen.

[21] Die Bevölkerung Orissas wird 1994 auf 33.795.000 geschätzt. In Microsoft Worldatlas 2001.

[22] alekha bezieht sich auf die Umschrift der Umgangssprache. Das Wort wurde immer von Anhängern mit "unbeschrieben" ("unwritten" auf englisch) und unbeschreibbar ("undescribable") übersetzt. Im Sanskrit heißt "alekha" nicht schriftlich, schriftlos, auch Analphabet. Nicht beschreibbar müsste alekshya heißen. Ich halte mich bewusst an die umgangsprachliche Variante, die "unbeschreiblich" mit "unbeschrieben" gleichsetzt.

[23] Mapuro kommt vom Sanskrit Maha Probhu (Großer Gott).

[24] Monotheismus= philosophisch-theologische Bezeichnung für den Glauben an eine einzige personale transzendente Gottheit im Gegensatz zu vielen anderen Gottheiten (zur Begriffgeschichte siehe: Paus, A. u.a. 1998. ‘Monotheismus’, in W. Kasper (Hrsg.), Lexikon Für Theologie und Kirche. Siebter Band, Freiburg/Basel/Rom/Wien: Herder Verlag, 421-430).

[25] Die Bezeichnung wird in Anlehnung an den von Max Müller eingeführten Neologismus ‘Henotheismus’ gebraucht. Dieser bezeichnet einen Ein-Gottesglauben, der die Verehrung anderer Götter nicht ausschließt, sondern die emotionale Einstellung des Gläubigen zur Einzigartigkeit des gerade verehrten Gottes zum Ausdruck bringt. Im Sinne M. Müllers sei dies ein "Monotheismus des Affektes und der Stimmung" ( Zitat aus Bertholet, A. 1985, Wörterbuch der Religionen, Stuttgart: Kröner, 235). Der Begriff ‘Henotheismus’ als "ein Glaube an einzelne, abwechselnd als höchste hervortretende Götter" (Zitat von Max Müller aus Ott, M. 1995. ‘Henotheismus’ in Kasper, W. u.a. 1995, Lexikon für Theologie und Kirche. Vierter Band. Freiburg-Basel-Rom-Wien: Herder, 1425-1426) scheint mir für das Gottesbild der Mahima Dharma-Lehre geeigneter als Monotheismus zu sein.

[26] Dikhya = (Sanskrit) Weihe.

[27] Darshana wurde im lokalen Kontext von Mahima Dharma als Körperübung, nicht als ‘Schau Gottes’/‘Betrachten’ des Bildnisses Gottes im klassischen Sinne verstanden. Die ‘Schau Gottes’ in Mahima Dharma drückte sich vor allem durch die körperlichen Gebetsübungen aus.

[28] Bezug auf Schlüsselmotiv der feministischen Anthropologie, deren Vertreterinnen ich hier nur skizzenhaft erwähnen kann: Etwa: MacCormack, C.P. and Strathern, M. (eds.)1980. Nature, Culture and Gender, Cambridge, Cambridge University Press; Ortner, S.B and Whitehead, H. 1981. Sexual Meanings: The Cultural Construction of Gender and Sexuality, Cambridge, Cambridge University Press. Moore, H.L. 1988. Feminism and Anthropology, Cambridge, Cambridge University Press.

Eine gute Übersicht über die Schlüsseldiskurse bietet Rippl, G. 1993. Unbeschreiblich Weiblich. Texte zur Feministischen Anthropologie. Frankfurt, Fischer.

[29] "Pila” bedeutet zwar Junge/Knabe, "chua” Kind und könnte auf ein kindliches männliches Geschlecht verweisen, doch pila chua wird als Kategorie sowohl für weibliche und männlicihe Kinder gebraucht, ist somit eine Kategorie des Alters, nicht des Geschlechts.

[30] Vgl. Leach, E. 1958. ‘Magical Hair’, in Journal of the Royal Anthropological Institute of Great Britain and Northern Ireland 88, 147-164; auch Obeysekere, G. 1981. Medusa`s Hair, Chicago: The University Press of Chicago Press.

[31] O`Flaherty, W.D. (1980): Women, Androgynes and other Mythical Beasts, Chicago University Press, Chicago.

Dieser Beitrag gehört zum Schwerpunkt: Queer South Asia .

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