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10. September 2008. Analysen: Südasien - Geschichte & Religion Die Dār-al-´ulūm Deoband

Ein Rundgang durch das Zentrum islamischer Gelehrsamkeit in Südasien

Die 1867 im beschaulichen Dörfchen Deoband in Nordindien begründete islamische Hochschule ist seit dem 11. September 2001 als angebliche Kaderschmiede des Terrorismus zu einem wichtigen Zentrum internationaler Aufmerksamkeitsökonomien rund um den Islamismus geworden. Denn nicht nur die betont apolitischen Tablīghīs, die die "innere Mission" vorantreiben, auch die Talibān, die das zentrale Zeichen des Scheiterns der politischen Reislamisierungsbemühungen setzten, berufen sich auf ideologische Vorstellungen aus Deoband. Im Folgenden wird über eine kurze Geländebeschreibung versucht, die Religionstopografie Deobands zu erschließen.

Deoband 1: Gästehaus
"Mehmān khāna", Gästehaus der Dār al-´ulūm Deoband Foto: Thomas Gugler

Wer Deoband besucht und mit der Bahn anreist, wird auf seinem Weg auf der Hauptstraße des Ortes zunächst zwei Villen begegnen, von denen eine dem lokalen Arzt, einem Hindu, gehört. Hiernach wird die Straße enger, es beginnen sich kleine Gässchen abzuzweigen. Ganz am Ende der Straße, am hintersten Gässchen grüßt das Gästehaus der Dār-al-´ulūm Deoband und lädt zum kostenlosen Verweilen in 2- oder 4-Bett-Zimmern mit Etagendusche und Vollpension.

Deoband 2: Haupttor
Haupteingangstor zur Dār al-´ulūm Deoband Foto: Thomas Gugler

Gleich gegenüber dem Gästehaus ragt das Haupttor der zweitwichtigsten Universität der islamischen Welt empor. 1867 wurde die Dār-al´ulūm Deoband von Maulānā Muhammad Qāsim Nanautawī (1832-1879) und Maulānā Rashīd Ahmad Gangohī (1829-1905) gegründet.Die mittlerweile als das Al-Azhar Asiens bekannte Hochschule umfasst zahlreiche Gebäudekomplexe, unter anderem sind beinahe alle der gegenwärtig circa 12.000 Studenten hier untergebracht.

Deoband 6: Studentenwohnheim
Studentenwohnheim Foto: Thomas Gugler

Die moderateren Muslime unter den Einwohnern Deobands wahren häufig eine ambivalente Distanz zu den Studierenden, da sie Sektierertum und mit ihm die Interpretationshoheit der Dār-al-´ulūm Deobands über die islamische Sache durchaus in Frage stellen. Bisweilen machen sie sich über die strikteren Studenten lustig, die umgangssprachlich darhī-vāle (Bartmänner) genannt werden. Die bärtigen Studenten kommen von überall her, aus allen Staaten Indiens, aus Pakistan, Bangladesh, Afghanistan, China und Zentralasien. Gegenwärtig beherbergt der Campus auch zwei Studierende aus London, Gasthörer – denn die Zulassung wurde durch Intervention einiger Geheimdienste erschwert und ist nur für 6.000 Studierende möglich. Die andere Hälfte der Studierenden verlässt die Institution ohne formalen Abschluss, unregistriert.

Deoband 7: Rashīd Masjid
Rashīd Masjid Foto: Thomas Gugler

Die dār-al-´ulūm Deoband predigt einen puritanischen Islam, der sich an der Gründerzeit orientiert und politisches Engagement begrüßt. Ihr islamisches Projekt trägt Züge einer Gegenmodernisierung, d.h. Deobandis reagieren auf die Pluralisierung der Plausibilitätsstruturen, die Peter L. Berger als Kennzeichen der Moderne beschrieben hat, mit Bemühungen, vormoderne und nun brüchig gewordene Gewissheiten wiederherzustellen. Mit Hinblick auf Neo-Orthodoxie und Neo-Traditionalismus kann man also spaßeshalber auch von Neoband sprechen: Die Gründer schrieben sich den Leitbegriff der Erweckung und Erneuerung, tajdīd, oder wie Clifford Geertz (1964) es nennt, der internen Konversion, auf die Fahnen.

Die Politisierung Deobands geschah jedoch nicht in der Gründungszeit der 1860er, sondern erst in der zweiten und dritten Generation. Angetrieben von Lehrern wie Maulānā Mahmūd Hasan (1851-1921), Maulānā Husain Ahmad Madanī (1879-1957) und Maulānā ´Ubaidullah Sindhī (1872-1944) setzten sich Befürworter des transnationalen politischen Engagements in den späten 1930ern durch. Die zentralen politischen Arme Deobands sind heute die politischen Parteien JUH (Jam´īyat-e ´Ulemā´-ye Hind) in Indien und JUI (Jam´īyat-e ´Ulemā´-ye Islām) in Pakistan.

Deoband 3: Holz
Holz für die Öfen der Mensa Foto: Thomas Gugler

Das erste Department hinter dem Eingangstor ist das Institut für Tablīgh-o-Da´wa, islamische Mission und Verkündung – nicht zufällig an der Pforte zur permanent dämonisierten Hindu-dominierten Außenwelt, zu dem das Campus-Leben oft genug in krassem Widerspruch steht. Seit 1907 gibt es in Deoband systematisch organisierte Missionsbemühungen, seit 1934 das eigene Institut für Missionswissenschaften. Neben westlicher Kleidung sind auf dem Campus der seit einigen Jahren in Indien sehr beliebte Nescafe per fatwa verboten und auch vor den ebenfalls per Rechtsgutachten aus Deoband verbotenen Cold Drinks wie Pepsi und Sprite beschützen die Lehrkörper die Seelen und Zähne ihre Zöglinge.

Das Cold-Drink-Verbot ist genauer betrachtet ein Überbleibsel aus den Verstrickungen Deobands im jihād gegen die Sowjets in Afghanistan: Hatten Deobandi Medressen hauptsächlich die sogenannten "Talibān" (wörtlich: Schüler) - mujāhedīn für den USA-finanzierten Krieg produziert, fühlte sich Deoband nach dem Krieg gegen Afghanistan in Folge des 11. Septembers von den Amerikanern verraten und verbannte alle amerikanischen Produkte mitsamt ihrer indischen Nachahmer, zum Beispiel Thums Up. Mittlerweile hat sich der politische Wind gedreht. Nun gibt es weit über Indien hinaus die berühmte Anti-Terror-Fatwa vom Februar 2008 und der Bann gegen amerikanische Produkte wurde theoretisch aufgehoben. Die zentrale Fatwa-Sammlung Deobands ist die des Gründers Gangohī, Fatawa-ye Rashīdīya, die im September 2006 in Pakistan offiziell als hassschürend verboten wurde (The Dawn, 22.9.2006). Die nächstwichtigsten Werke sind die Schriften von Maulānā Ashraf ´Alī Thānawī (1863-1943).

Deoband 4: Department of Computer
Department of Computer Foto: Thomas Gugler

Besonders prestigeträchtig sind die beiden nächsten, relativ neuen Institute, die dem Aufbau globaler Kommunikationskompetenz dienen: Das 2002 gegründete Institut für englische Sprache und das Institut für Computer(wissenschaften) werden gerne als Beweise gelungener Modernisierungsbewältigung bemüht. Dem deutschen Besucher muss die Mensa auffallen: in einem eigenen Vorbau wird das Holz für die überdimensionalen Öfen gestapelt. Die acht auf sechs abgeteilte Räume verteilten Riesenöfen haben die Wände mit ihrem Ruß schwarz gefärbt. Hier wird dreimal täglich das Brot für etwa 14.000 Münder gebacken, denn das ist einfacher als dieselbigen mit Reis zu speisen, den es einmal die Woche gibt. Vierzehntägig gibt es das bei den Studenten sehr beliebte Biryānī.

Deoband 5: Hifz
Fakultät für Hifz Foto: Thomas Gugler

Die Schüler, viele von ihnen sind erst zwölf Jahre alt und lernen zum ersten Mal den Koran auswendig, sind üblicherweise acht Jahre in spartanischen 8-Personen-Zimmern untergebracht. Betten gibt es nicht. Mit einer Decke auf dem Boden liegen sie vor einem abschließbaren Spind, in dem alle ihre Privatsachen untergebracht sind. Pro Zimmer gibt es einen kleinen Gaskocher um Tee zuzubereiten. Mehr Komfort ist nicht vorhanden.

Deoband 8: Seiteneingang zur Rashīd Masjid
Seiteneingang zur Rashīd Masjid Foto: Thomas Gugler

Auf dem Campus gibt es vier Moscheen, von denen eine zu Recht den Ruf genießt, eine der schönsten Moscheen Indiens zu sein: Vor zwölf Jahren wurden die Bauarbeiten zur Rashīd-Moschee begonnen, seit 2005 lädt ihr kostbarer Steinboden aus Rajasthan zum Gebet. Unter der Moschee befindet sich die Prüfungshalle, in der mehrere Hundert Schüler gleichzeitig die Abschlussklausuren schreiben. Außerdem befinden sich dort Zweier-Zimmer für fortgeschrittene Studenten, meist aus dem Ausland.

Neben innerweltlicher Askese und einem wahrhaft einladendem Bildungsangebot mit für Indien bei weitem überdurchschnittlich gut ausgestatteten Bibliotheken besticht das Campusleben durch eine Vermischung unterschiedlichster Lebensgeschichten, die es so wohl nur in Deoband gibt. Neben zahllosen Studentengruppen und -vereinigungen zirkulieren die absonderlichsten Billets und seltene islamische Magazine unter den Studenten. Wie wohl an allen islamischen Ausbildungseinrichtungen organisiert sich das soziale Leben um Teestuben und Fruchtsaftläden herum, die bis spät in die Nacht aufgesucht werden – Frauen oder Musik gibt es in diesem Teil Deobands praktisch nicht.

Deoband 10: Alltag
Studentischer Alltag außerhalb des Campus Foto: Thomas gugler

Das Angebot an Freizeitaktivitäten lässt indes kaum einen Wunsch unbefriedigt. Der 21-jährige Salim aus Assam beispielsweise ist überall auf dem Campus bekannt für seinen wohltrainierten Körper. Vor fünf Jahren ist er nach Deoband gekommen und unterrichtet in seiner Freizeit Kampfsport auf dem Campus. Man kann ihn für eine Lektion spontan besuchen, aber er hat auch knapp vierzig regelmäßige Schüler. Der Sinn für Brüderlichkeit ist sicherlich das entscheidende Moment, das die Studenten fern ihrer Familien am Campus bleiben lässt und das den Erfolg der Absolventen, der in ihrer Geradlinigkeit liegt, dauerhaft sichert.

Interviews sind schwer zu führen, einerseits wegen der Sprachbarriere – kaum jemand versteht Englisch und viele der Schüler aus anderen Staaten Indiens beherrschen auch Urdū nicht – überwiegend jedoch wegen der administrativen Blockaden, die die Hochschule mittlerweile gegen ausländische Besucher und insbesondere Journalisten entwickelt hat. Keinem Lehrer ist es erlaubt, ungenehmigt Interviews zu geben. Kontakte mit Ausländern werden nur über eine einzige Kontaktperson aus dem Department for English Language geknüpft, der kein großes Interesse hat, Interviewanfragen weiterzuleiten. Der Direktor des Dār-al-´ulūm Marghūb-ar-Rahmān ist mit seinen 95 Jahren auch eher formal tonangebend. Sein Geisteszustand ist dem Alter entsprechend je nach Tagesform mehr oder weniger schlecht. Praktisch geführt wird die Institution vom ersten Vice-Chancellor, ´Abdul Khalīque Madrāssī, Professor für Ahadīth, dem Propheten zugeschriebene Aussprüche.

´Abdul Khalīque darf nach dem Nachmittagsgebet, während er seine Wasserpfeife raucht, von Schülern und Besuchern befragt werden. Während seiner Pfeife ist er sehr gut gelaunt und macht den einen oder anderen Witz auf Urdū, der anzeigt, dass die ständigen Besucher von außerhalb eher nerven. "Wieso schreibst Du nicht über Katholizismus?" war beispielsweise seine erste Frage an mich, bevor ich mir in Urdū eine Lektion über Hitler und den Ursprung des Terrorismus in Deutschland anhören durfte. Fragen werden danach aber vernünftig beantwortet.

Deoband 11: Audimax
Audimax Foto: Thomas Gugler

Der zweite der vier Vice-Chancellors ist Qāri ´Usmān (63), ebenfalls Professor für Ahadīth. Die dritten und vierten Vice-Chancellors sind die von Lehrpflichten befreiten Badr-ad-dīn Ajmal und Gulām Khāmosh. Sehr berühmt und sehr hilfsbereit ist der Ahadīth-Professor Nematullāh Āzmī (81), der auch wegen seines unverblümten Humors im Audimax thronend spricht. Eine weitere zentrale Führungspersönlichkeit ist der neben in Deoband auch in Delhi residierende Arshād Madānī, Head of Department für ta´līmat (education) an der Dār-al-´ulūm und Direktor der politischen Partei Jami´at-e ´ulamā-ye Hind. Unter den Studenten sehr beliebt ist der charismatische Redner Muftī Sa´īd, Professor für Ahadīth, und Spezialist für Tirmīzī.

Etwa einen Kilometer hinter dieser "alten" Dār-ul-´ulūm liegt die 1982 gegründete Dār-al´-ulūm Waqf, an der gegenwärtig etwa 5.000 Studenten studieren, etwa 3.000 mit Zulassung. Es untersteht Maulānā Muhammad Salīm Qāsmī, Nachfahre des Gründers der Dār-al-ulūm Muhammad Qāsim Nanaotawī.

Deoband 12: Buchhandlung
Islamische Buchhandlung Faisal Foto: Thomas Gugler

Deoband ist allem voran aber ein Besuch wert aufgrund der zahllosen Buchläden, die islamische Literatur in Urdū, Hindī und Arabisch zu unschlagbaren Tiefstpreisen feilbieten. Der berühmteste Buchladen ist die Dār-al-kitāb nahe des Haupttors der Dār-al-´ulūm, der größte Buchladen ist der etwas versteckte, zweistöckige Faisal, der von außen völlig unscheinbar wirkt, an dem man jedoch nicht vorbeigehen sollte. Die Buchläden und Publikationsorgane sind für viele angehende Absolventen die zentralen Kommunikationsmedien, durch die Ideen aus anderen Teilen der islamischen Welt auf den Campus fließen und ihn in gedruckter Form wieder verlassen. Der Besucher wird hier eine wahrhaft wild sprudelnde Quelle der Ideenbereicherung finden.

 

Quellen

Berger, Peter L. 1980: Der Zwang zur Häresie. Religion in der pluralistischen Gesellschaft. Frankfurt a. M.: suhrkamp.

Geertz, Clifford 1964: "Internal Conversion" in Contemporary Bali. Chicago: The Committee for the Comparative Study of New Nations, University of Chicago.

Metcalf, Barbara D. 2002: "Traditionalist" Islamic Activism: Deoband, Tablighis, and Talibs. Leiden: ISIM. pdf-Version.

Metcalf, Barbara D. 2005 (1982): Islamic Revival in British India. Deoband, 1860-1900. New Delhi: Oxford University Press.

Reetz, Dietrich 2007: The Deoband Universe: What Makes a Transcultural and Transnational Educational Movement of Islam? In: Comparative Studies of South Asia, Africa and the Middle East. Vol. 27 No. 1, S. 139-159.

The Dawn, 22.9.2006: Provinces to curb sale of hate material.


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