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04. Dezember 2008. Analysen: Indien - Politik & Recht Ohnmacht der Zentrale? Indien kämpft vielerorts mit innerer Instabilität, Rechtlosigkeit und Gewalt

Politik-Monitor Indien – Nr. 3/2008

Indien befindet sich, selbst angesichts der weitgehend abgeschlossenen Landtagswahlen in Jammu & Kashmir, Delhi, Rajasthan, Madhya Pradesh, Chhattisgarh und Mizoram, in einer Phase beachtlicher innenpolitischer Instabilität. Die Terror-Anschläge in Mumbai und die bevorstehende Schlacht um die politische Macht bei der Anfang 2009 fälligen Unterhauswahl lassen nicht erwarten, dass mit einer Phase innenpolitischer Konsolidierung und Ruhe zu rechnen ist.

Die einseitigen Advokaten des Wirtschaftsbooms in Indien müssen sich wohl doch etwas verwundert die Augen angesichts der sehr gefährlichen innenpolitischen Ereignisse in den letzten Monaten – auch schon vor den schrecklichen Terroranschlägen in Mumbai (Bombay) Ende November 2008 – gerieben haben:

Ruf nach Azadi in Kashmir, Bombenanschläge, Christen-Verfolgungen und regionaler Chauvinismus

Die großen Demonstrationen für Azadi (Freiheit) in den Sommermonaten im Kashmir-Tal, die vorübergehende Wirtschaftsblockade des Kashmir-Tals, angezettelt von hindu-nationalistischen Frontorganisationen aus dem Lager des Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS/Nationales Freiwilligen-Korps) im Landesteil Jammu und die Boykott-Aufrufe der All-Party Hurryiat Conference, lassen allerdings nicht erwarten, dass die jetzt in mehreren Phasen abgewickelten Landtagswahlen zu einer überdurchschnittlich guten Wahlbeteiligung führen würden. Es wird wohl weiterhin erbittert über den künftigen Status von Jammu & Kashmir zwischen den wichtigsten politischen Kräften innerhalb dieses größten Krisenstaates der Indischen Union als auch zwischen Indien und Pakistan gerungen. Nach den Anschlägen in Mumbai könnte es wieder zu Spannungen zwischen beiden Ländern kommen. K. Subrahmanyam, wichtigster Analyriker der indischen Sicherheitspolitik, warnt deshalb die indische Regierung davor, nicht in diese von den Drahtziehern der Terroranschläge gestellte Falle zu laufen.

Neben den Bombenanschlägen in Bangalore, Ahmedabad, Delhi sowie in Assam kam es zu den schlimmen Verfolgungen und Ermordungen von Christen in Orissa (vgl. Cornelia Mallebrein: Orissa brennt , 12. September 2008) und Karnataka – aber auch vereinzelt in anderen Staaten – durch die Sturmtruppen des extremen Hindu-Nationalismus. Die Mitglieder des Bajrang Dal (Verehrung des Affengottes), die Jugendorganisation des fundamentalistischen Vishwa Hindu Parishad (VHP/Weltrat der Hindus) und der Bharatiya Janata Party (BJP/Indische Volkspartei) nahestehend, verwüsteten das Eigentum von Christen und trieben Zehntausende von ihnen in die Wälder und in Flüchtlingslager. Insgesamt wurde von rund 100.000 betroffenen Menschen gesprochen. Viele ließen ihr verwüstetes Hab und Gut zurück und flüchteten in die Landeshauptstadt von Orissa oder verließen sogar den Unionsstaat.

Die Landesregierungen von Orissa (dort ist die BJP Juniorpartner) und Karnataka (hier regieren die Hindu-Nationalisten mit absoluter Mehrheit) zeichneten sich durch Ineffizienz und eine mangelnde Bereitschaft ihrer Sicherheitskräfte aus, die Minderheit der Christen angemessen zu schützen.

Was sind die Triebkräfte dieser Christen-Verfolgung? Gemäß dieser politischen Philosophie, die wesentlich auf dem Gedankengut des Rashtriya Swayamsevak Sangh beruht, sollen die religiösen Minderheiten in Indien einen untergeordneten Status unter der Suprematie "des" Hinduismus akzeptieren und vor allem auch ihre internationalen Loyalitäten kappen. Konversion, angeblich oft erzwungen beziehungsweise durch finanzielle Anreize bewirkt, soll deshalb gesetzlich unterbunden werden. Stattdessen betreiben diese Kräfte ihrerseits mit den unterschiedlichsten Methoden, darunter neben aktiver Sozialarbeit auch mit Gewalt und Morddrohungen, die Rekonversion von Christen zum Hinduismus. 

Christen sind nicht zuletzt aufgrund ihrer exzellenten Bildungs- und Gesundheitsorganisationen den Verfechtern des radikalen Hindu-Nationalismus schon lange ein Dorn im Auge. Es ist jedoch keineswegs so, dass alle Hindu-Nationalisten das Wirken von Vishwa Hindu Parishad und Bajrang Dal unterstützen, ganz im Gegenteil. Ein zum einst "liberalen" BJP-Flügel zählender Spitzenpolitiker bezeichnete Ende der achtziger und in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts das Agieren dieser Organisationen, die neuerdings wieder ungeniert und die Regierung offen herausfordernd agieren, privat als "kollektiven Wahnsinn".

Nun treten am Rande des fest etablierten Hindu-Nationalismus auch noch radikalere Gruppen auf, die verdächtigt werden, Terroranschläge gegen Muslime in Malegaon in Maharashtra und möglicherweise auch anderswo durchgeführt zu haben ("Hindutva-Terrornetzwerk"). Die Untersuchungen laufen, unter den zahlreichen Verdächtigen befinden sich unter anderem ein "Godman" (populärer Hindu-Asket dem übernatürliche Fähigkeiten zugeschrieben werden) , eine Sadhvi (Nonne) und ein aktiver Militärangehöriger mit Querverbindungen auch in das Lager des etablierten Hindu-Nationalismus.

In der Finanzmetropole Mumbai versucht Raj Thackeray mit gewaltsamen und gegen Nordinder gerichteten Übergriffen, die auch Todesopfer forderten, durch die Schlägertruppen seiner Navnirman Sena (Armee des Neubeginns) das Erbe seines 83-jährigen Onkels und dessen faschistoiden Shiv Sena (Armee Shivas) anzutreten. Zehntausende berufstätige Nordinder vor allem aus Bihar flüchteten innerhalb eines knappen Jahres in zwei Wellen vor den Goondas der regional-chauvinistsichen Navnirman Sena. In Bihar selbst führte dies zu einer selten einmütigen politischen Reaktion. Der junge und zweifelsohne charismatische Raj Thackeray argumentiert, dass Nordinder der einheimischen Bevölkerung (Manoos) von Maharashtra die Jobs wegnehmen würden. Wie verzwickt, machiavellistisch und absolut prinzipienlos indische Politik sein kann, lässt sich aus der glaubwürdigen Analyse ableiten, dass der Congress und die Nationalist Congress Party von Landwirtschaftsminister Sharad Pawar, die gemeinsam in Maharashtra regieren, verdeckt die Navnirman Sena unterstützten und gewähren ließen. Sie wollen dadurch die Shiv Sena, Allianzpartner der BJP, entscheidend schwächen. Rechtssicherheit, außer symbolischen Gesten in Form einer kurzen Verhaftung, spielt mehr als eine untergeordnete Rolle. Auch der junge Thackeray kann, wie sein Onkel über mehrere Jahrzehnte hinweg, quasi in einem für ihn rechtsfreien Raum agieren.

Polarisierende BJP-Strategie

Was veranlasste die Hindu-Nationalisten zu dieser aggressiven Strategie, obwohl sich L. K. Advani, Kandidat der BJP für das Amt des Premierministers, von diesen Gewaltmethoden distanzierte? Die BJP wollte die Auseinandersetzung um die politische Macht bei den vorentscheidenden Landtagswahlen in 2008 (die Ergebnisse werden ab 8. Dezember wohl überwiegend vorliegen) und im Vorfeld der Unterhauswahl 2009 polarisieren. Dazu bot es sich an, die regierende United Progressive Alliance als schwach und unentschlossen darzustellen sowie der Sympathie mit den religiösen Minderheiten, insbesondere den Muslimen, zu bezichtigen und sie sogar zu verdächtigen, nicht angemessen gegen den Terror muslimischer Extremisten vorzugehen. 

Die fürchterlichen Anschläge in Mumbai sind daher durchaus Wasser auf die Mühlen dieser Strategie. Nach Meinung von Experten ist die Angst der Muslime heute größer als nach dem Abriss der Babri-Moschee in Ayodhya 1992 durch die radikalen Sturmtruppen des Hindu-Nationalismus (vgl. Stefan Mentschel: Im Namen Rams , 22. Januar 2002). Eine wesentliche Ursache dafür sind die oft scheinbar willkürlichen Verhaftungen zahlreicher Muslime nach den verschiedensten Bombenattentaten.

Warum zögert die Zentralregierung?

Eine politische Tagesaufgeregtheit ist gegenüber den vielfältigen Formen von struktureller und manifester Gewalt, auch mit ihren keineswegs geringen Opfern an Menschenleben, angesichts der enormen Größenordnungen in Indien sicherlich nicht angebracht. Entladen sich aber nun einige der "million mutinies" (V. S. Naipaul) zur gleichen historischen Zeit und ist die keineswegs sattelfeste Zentralregierung damit überfordert?

Innere Sicherheit, Ruhe und Ordnung sind vor allem Aufgaben der Landesregierungen, in geringerem Maße ist die Zentrale in New Delhi involviert. Die indische Regierung hat in Karnataka und Orissa nicht eingegriffen, etwa durch das früher oft missbrauchte Instrument der President’s Rule, das heißt der direkten Verwaltung eines Staates durch die Zentralregierung mittels des Gouverneurs. Stattdessen wurden paramilitärische Kräfte entsandt und den Landesregierungen zur Verfügung gestellt. Die Zentralregierung beschränkte sich auf beratendes Einwirken und berief den National Integration Council ein.

Die Regierungskoalition der Vereinigten Fortschrittlichen Allianz (UPA) trat angesichts dieser zu größter Sorge Anlass gebenden Ereignisse, die eine neue Qualität markierten, keineswegs geschlossen auf. Einige Koalitionspartner forderten ein Verbot des Bajrang Dal, andere Politiker, gerade auch innerhalb der Congress-Partei, befürchteten, dass Parteipräsidentin Sonia Gandhi in diesem Fall verstärkt zur Zielscheibe der Agitation der Hindu-Nationalisten werden und in den Ruf geraten könnte, Politik gegen die Hindu-Mehrheit zu betreiben. Dies könne sich für ihre Partei und die zudem auch noch sehr fragile Koalition negativ bei Wahlen auswirken, so diese bislang obsiegende Argumentation.

Ganz im Gegensatz zu ihren internationalen Erfolgen (in Bezug auf die Internationale Atomenergiebehörde, National Suppliers Group und Ratifizierung des indisch-amerikanischen Nuklearabkommens, das Indiens Status als Nuklearmacht anerkennt und den Ausbau der Nuklearenergie für zivile Zwecke voll ermöglicht) machte die Regierung in den letzten Monaten in der Innenpolitik insgesamt einen sehr unentschlossenen Eindruck. Dies gilt sowohl für ihr Zaudern hinsichtlich der wochenlangen Massendemonstrationen in Jammu & Kashmir, der faktischen Wirtschaftsblockade des hoch sensitiven Kashmir-Tals vom Landesteil Jammu aus, als auch angesichts der Ereignisse in Orissa und Karnataka.

Vielleicht stellen aber auch das gleichzeitig verstärkte Auftreten extremistischer Gruppen aus dem Lager der beiden größten Religionsgemeinschaften sowie die akute Lage in den von Naxaliten beherrschten Gebieten, vom indischen Nordosten ganz zu schweigen, insgesamt eine neue Qualität dar, die verstärkt die Schwächen des indischen Herrschaftssystems schonungslos offen legen, zumal viele wichtige Institutionen ihre Funktionen nicht angemessen erfüllen. Es lässt sich deshalb wohl von verstärkten Anzeichen für eine tiefergehende Systemkrise sprechen, die eine echte Herausforderung für die Träger der indischen Demokratie sowohl nach außen als vor allem auch nach innen darstellt.

Nach den Anschlägen in Mumbai hat der äußerst umstrittene Innenminister Shivraj Patil endlich die Konsequenzen gezogen und seinen Rücktritt erklärt. Sein Ruf als inkompetenter Administrator dürfte dem Congress zunehmend geschadet haben. Es wird nun aber auch vom Ausgang der oben erwähnten Landtagswahlen abhängen, ob die angeschlagene UPA-Regierungskoalition unter Manmohan Singh überhaupt noch die Zügel fest in der Hand behalten kann oder relativ ohnmächtig in die fälligen Neuwahlen schlittern wird.

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