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05. Mai 2009. Analysen: Politik & Recht - Nepal Unruhige Zeiten in Nepal

Ethnische Auseinandersetzungen und die bürgerliche Opposition machen der maoistischen Regierung das Leben schwer

Seit dem Ende der Monarchie im April 2006 und dem Beginn des verfassungsgebenden Prozesses im Jahr 2008 nehmen die Konflikte im Land immer mehr zu, die wirtschaftliche Entwicklung stagniert und die Lebensbedingungen für die Bevölkerung werden zunehmend schwieriger. Sollte diese Entwicklung so weitergehen, nähert sich das Land mit seinem noch jungen demokratischen System einer Zerreißprobe.

Von Anfang bis Mitte März und erneut seit Ende April bestreiken politische Aktivisten der Tharu das nepalesische Tiefland im Süden des Landes. Die Tharu zählen mit 6,7 Prozent Anteil an der gesamten Bevölkerung zu der  viertgrößten Ethnie Nepals und fordern gemeinsam mit einer Reihe anderer indigener Tarai-Madesh-Gruppen politische Mitbestimmungsrechte.

Streik, auf Nepali "Band" oder auch "Banda", bedeutet in Nepal nicht nur wie in Europa Arbeitsniederlegung als politisches Druckmittel, sondern eine Art Totalblockade sowohl der Wirtschaft als auch des Erziehungssystems, vor allem durch  Blockade der Verkehrswege und auf Geschäftsleute ausgeübten Druck, ihre Geschäfte geschlossen zu halten. Im Tarai kommt hinzu, dass Touristen nicht zu den Nationalparks reisen und die Grenzübergänge nach Indien für eine gewisse Zeit geschlossen sein können.

Seit der hohen Landfluchtrate, die durch den  Bürgerkrieg von 1996 bis 2006 angestoßen wurde, ziehen immer mehr Nepalis vom Gebirge ins Tiefland, um in den neu entstehenden  Städten zu siedeln. Im Tarai befinden sich nahezu alle großen Industrieansiedlungen außerhalb des Kathmandutals, durch dieses Gebiet verläuft der Mahendra-Highway als einzige Ost-West-Verbindung und alle Versorgungswege aus dem benachbarten Indien. Zudem gibt es neun Inlandsflughäfen von denen eine direkte Flugverbindung nach Kathmandu besteht. Mit seiner hohen landwirtschaftlichen Nutzung und dem Tourismus in zwei Nationalparks ist das Tarai eine der wichtigsten Wirtschaftszonen Nepals. Ein Streik im Tarai hat deshalb eine erheblich größere Wirkung als in anderen Regionen Nepals.

Auslöser für den Streik war die Entscheidung der von den Maoisten der United Communist Party of Nepal - Maobadi (UCPN-M) geführten Regierung in Kathmandu, die gesamte Bevölkerung des Tarai unter dem Begriff Madeshi bzw. die Region zu einem geschlossenen 'Madesh' namentlich und administrativ zusammenzufassen. Mit diesem Vorschlag hatten sich die Maobadi in der schwierigen Debatte um die zukünftige föderale Gestaltung des Landes als erste aus der Deckung gewagt. Das Tharuhat Joint Struggle Committee  (TJSC) und andere betroffene Gruppen forderten hingegen einen Zusatz zur Interimsverfassung, der ihnen ihre jeweilige kulturelle und ethnische Identität und eine eigene politische Vertretung in den staatlichen Gremien garantiert. Die Tharu hatten über Jahrhunderte durch Zuwanderung der Pahadi und der Madeshi - der hinduistischen Kastenbevölkerung aus dem mittleren Bergland und der nördlichen Gangesebene - ihr Land verloren. 1854 wurden sie sogar zu Unberührbaren erklärt. Viele Tharus lebten bis ins Jahr 2000 in Leibeigenschaft ähnlichen Verhältnissen und waren Opfer teilweise brutaler Unterdrückung und Diskriminierung. Die Chitwan Tharu, eine der 26 Untergruppen der Tharu, mussten ihr angestammtes Gebiet verlassen, als der Royal Chitwan Nationalpark innerhalb ihres Siedlungsgebiets eingerichtet wurde.

Bei dem jüngsten Streik wurden in mehreren Verhandlungen Kompromisse gefunden. Gleichzeitig wurde aber der Streik fortgeführt; Transporte ins Kathmandutal konnten nur durch den Geleitschutz der Polizei und des Militär gewährleistet werden. Während des zweiwöchigen Streiks wurden vier junge Aktivisten getötet, für kurze Zeit war die Grenze zu Indien über den Landweg nicht passierbar.

Ethnisch und kulturell ist Nepal ausgesprochen heterogen. Bei einer Volkszählung im Jahre 2001 wurden über 100 verschiedene Volksgruppen und Kasten sowie mehr als 70 unterschiedliche Sprachen und Dialekte gezählt. Nepal wurde bis Anfang der 1990er Jahre bis hinunter auf die lokale Ebene zentral regiert. Im Zuge der Demokratisierung und Dezentralisierung wurden die Kommunen sukzessive in die Selbstständigkeit entlassen. Im Rahmen der Verfassungsgebung, nach Ende des zehnjährigen maoistischen Aufstandes, haben die gewählten Maobadi ihren  Plan zur Föderalismusreform vorgestellt. Die Föderalisierung Nepals soll demnach weitgehend entlang ethnischer Grenzen verlaufen: Acht der zehn "Regionen" sollen ethnisch geprägt sein. Alternative Entwürfe, etwa von Seiten der in den 1990er Jahren dominanten bürgerlichen Nepali Congress Party, sehen Grenzverläufe entlang naturräumlicher statt ethnischer Unterteilungen vor. Die verschiedenen Entwürfe variieren zudem stark im Umfang der Kompetenzen, die den neuen Einheiten zugestanden werden sollen. Für Konflikt sorgte von vornherein, dass kleinere Ethnien in administrativen Regionen zusammengefasst werden sollen, in denen größere Ethnien die Mehrheit stellen. Die territorial-politische Gestaltung der südlichen Tarai-Regionen war dabei von Anfang an besonders kontrovers. Sollte dieser schmale, doch verhältnismäßig reiche Landesteil geteilt und anderen Landesregionen angegliedert werden, die auch Teile des Hügelgebiets umfassen, oder sollte es ein "Madesh" geben?

Eng verbunden mit der Föderalisierung ist auch das Thema "Inclusiveness", womit die politische Teilhabe und die Einbeziehung aller Kasten und anderen Gruppierungen, Kommunen und Regionen in alle Bereiche des Staates und zwar nach ihren Anteilen an der Bevölkerung bezeichnet wird.  Vor allem geht es hierbei um die Inklusion statt Exklusion der bisher Unterprivilegierten und Marginalisierten, seien es nun "Unberührbare", ethnische Minoritäten,  Schwule,  Lesben und andere aus dem "third gender". Das dritte Geschlecht wird durch das neu gegründete Bündnis LGBTI (Lesbian, Gay, Bisexual, Trans Gender and Inter Sex) vertreten, das beansprucht, für 10 Prozent der nepalesischen Bevölkerung zu sprechen. Die Inklusion soll durch verfassungsmäßige Garantien, Programme zu deren Umsetzung, garantierte Möglichkeiten der politischen Interessenvertretung, Quoten und andere Formen positiver Diskriminierung erreicht werden. In allen Vereinbarungen zwischen den großen Parteien zu Beginn des Friedensprozesses 2006 wird "inclusiveness" eine hohe Priorität gegeben und fand als Begriff Einzug in die Interimsverfassung. Wie langsam unter anderem eine positive Diskriminierung greift, zeigt das Beispiel Indien, wo sie als politische Strategie schon seit der Unabhängigkeit zum Vorteil von Minderheiten eingesetzt wird und bisher lediglich einer schmalen Schicht innerhalb der "scheduled castes" bessere Lebensumstände verschaffte. Obwohl die maoistische Führung wie fast alle Parteien in Nepal von Kastenhindus dominiert ist, gewährten sie den durch das hinduistische Kastensystem als "Unberührbare" diskriminierten Dalits die vergleichsweise höchste Zahl an Mandaten in politischen Gremien, einschließlich des Parlaments, welches auch die verfassungsgebende Versammlung darstellt.

Viele unterprivilegierte Gruppen beklagen, dass ihre Grundrechte trotz der radikalen politischen Veränderungen, die das Land in der jüngeren Vergangenheit erfahren hat, nicht ausreichend abgesichert würden. Indigene Gruppen und Minderheiten einschließlich der Muslime, der Dalits, des Dritten Geschlechts und der Madeshis trugen ihren Protest auch in einem Bericht über marginalisierte Gruppen vor, der bei der UN-Konferenz gegen Rassismus vom 20. bis zum 24. April 2009 in Genf vorgelegt wurde. Diese Konferenz wird die Umsetzung des 'Durban Declaration and Programm of Action' (DDPA), der sich 2001 alle UNO-Staaten angeschlossen haben, überprüfen. Als UNO-Mitgliedsstaat hat auch Nepal sich verpflichtet, das DDPA umzusetzen. Gruppen wie zum Beispiel die Muslime fordern ihre namentliche Nennung in der Interimsverfassung mit entsprechenden Garantien, die bislang nicht gegeben werden.

Lange wurde die Bevölkerung rhetorisch als Einheit bezeichnet, faktisch wurde sie jedoch ungleich behandelt, was die Ängste verständlich macht, dass "inclusiveness", wie in den vergangenen Phasen autoritärer Regime bis 1990, in Zwang zur Assimilierung umgedeutet werden könnte. Von bürgerlicher Seite trägt den Maoisten ihre Politik der territorialen Neuordnung den Vergleich mit Stalins Minderheitenpolitik ein, wobei sowohl die Vertreter eines ethnisch als auch die eines nicht-ethnisch begründeten föderalen Staats das Risiko einer zunehmenden Desintegration, gar eines "Staatszerfalls", erkennen, wenn ihr jeweiliges Modell nicht umgesetzt wird.

Soweit es nun Gewalt oder deren Androhung zur Durchsetzung von Zielen betrifft, scheint auch bei einigen Maobadi noch nicht angekommen zu sein, dass der Bürgerkrieg zu Ende ist. Entgegen der Verpflichtung der Parteiführung kommt es noch immer zu Mord- und Entführungsdrohungen durch Parteikader oder anderen Formen von Gewalt und Nötigung. Im Unterschied zu früher gibt es jetzt eine nationale Menschenrechtskommission, um solche Vorgänge anzuzeigen und gegen die gewaltbereiten Kader vorzugehen.

Der ehemalige Premierminister und Vorsitzende der Kongresspartei, G.P. Koirala, aber auch Bamdev Gautam vom kleineren Koalitionspartner, der Vereinten Kommunistischen Partei Nepals (CPN-UML) und andere prominente nepalesische Politiker reisten im März 2009 nach Indien zu Gesprächen mit dem indischen Außenminister Mukherjee und L.K. Advani, dem Kandidaten der hindu-nationalistischen BJP für das Amt des Premierministers nach den Wahlen im April. Fragen, ob er indische Unterstützung gegen die von den Maoisten geführte Regierung seines Landes suche, wollte Koirala nicht kommentieren. Er warf den Maoisten stellvertretend für die bürgerlichen Kreise und Medien vor, das Land zunehmend in eine Diktatur zu verwandeln und kein ehrliches Interesse am verfassungsgebenden Prozess zu haben. Die Maoisten ihrerseits suchen zunehmend die politische und wirtschaftliche Nähe zu China über aktuelle Verhandlungen und Verträge.

Zumindest dem Augenschein nach ist Nepal noch weit davon entfernt eine Diktatur zu sein. Die hohe Polizeipräsenz zu Anlässen wie dem Holi-Fest, den Demonstrationen der Exiltibeter zum 50. Jahrestag des Aufstands gegen die chinesische Besetzung Tibets am 10. März 1959 oder den wiederholten gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen studentischen Gruppen aus Anlass der Wahlen zur Free Students Union macht noch keine Diktatur. Presse- und Demonstrationsfreiheit scheinen intakt, wobei die Strafen und Unterdrückungsmaßnahmen seitens der Regierung und der Militärpolizei weiterhin eine Bedrohung für den Demokratisierungsprozess darstellen.

Erwähnenswert ist auch, dass Nepals Ex-König Gyanendra seit dem 25. Februar in Indien unterwegs ist, um sich mit hochrangigen indischen Politikern, einschließlich Sonia Gandhi zu treffen. Delhi hatte zunächst die Beendigung der Monarchie und die Ausrufung der Republik unter Führung der Maoisten unterstützt, fühlt sich jedoch wegen der politischen Instabilität und der zunehmenden Präsenz Chinas in Nepal zunehmend unwohl. Die große indische Tageszeitung Times of India bezeichnete Nepal vor kurzem in einem Artikel zusammen mit Birma und Pakistan als "failing state". Glaubt man der maoistischen Führung, so besuchten die bürgerlichen Politiker im März Indien, um Gyanendra zu treffen und seine Wiedereinsetzung als König vorzubereiten. Gleichzeitig habe das Oberkommando der nepalesischen Armee einen "Sanften Putsch" geplant, um die UCPN-Maoist von der Regierung zu verdrängen und ihre bewaffneten Anhänger zu entmachten.

In Nepal gibt es derzeit zwei Armeen, die ehemals königliche Nepal Army (NA) und die maoistische People’s Liberation Army (PLA). Die Maoisten wollen die PLA möglichst schnell in der NA aufgehen lassen und ihre Kader dabei auch in die militärische Führung integriert sehen. Gestritten wird derzeit um die Posten von acht hohen Militärs, deren Dienstverhältnisse nicht verlängert wurden. Um eine Verschärfung der Kontroverse zu verhindern, hat der Ministerrat ein weiteres Komitee eingerichtet, das einen Plan für die Integration und Demokratisierung der Armee erarbeiten soll. Die Konfliktlinien verlaufen etwa so: den Maoisten wird unterstellt, die Übernahme des Militärs wäre ein zentraler Punkt ihrer Agenda im Zuge der Umwandlung Nepals in einen totalitären kommunistischen Staat ähnlich Nordkorea; von der selben Seite wird Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten einer erprobten Armee verlangt. Die andere Seite verweist dagegen darauf, dass die Armee entsprechend der Interimsverfassung seit Mai 2006 der Regierung und nicht mehr dem König als Oberbefehlshaber untersteht. Ein maoistisches Mitglied der verfassungsgebenden Versammlung sieht das so: "Die Armee unterstützt die Bourgeoisie, sie ist noch nicht bereit, den Weisungen der Regierung zu folgen. Um alles noch schlimmer zu machen, spielen die rivalisierenden Gruppen ein unfaires Spiel und hetzen die Armee gegen die Regierung auf". Tatsache ist, dass sich die Armee über Jahrzehnte, vor allem während des Bürgerkriegs zahlreicher Menschenrechtsverletzungen schuldig gemacht hat. Hinzu kommt, dass die NA und PLA  über 12 Jahre erbitterte Feinde waren.

Zu den politischen Auseinandersetzungen kommen wirtschaftliche Probleme, die das Land seit Jahren zu einem der makroökonomisch ärmsten Ländern der Welt werden ließen. Die eigene Versorgung mit Lebensmitteln wird zunehmend schwieriger, da durch Ausbleiben des Wintermonsuns große Ernteausfälle zu erwarten sind. Der trockene Winter hat zudem zu einem historischen Tiefststand der Wasserstände in den Flüssen geführt, an deren Stauseen fast die gesamte Elektrizität des Landes gewonnen wird. Wenn das Land zwischen die Mühlsteine der Machtinteressen seiner Nachbarn Indien und China gerät, die sich je nach Interessenlage mal für Kooperation und mal für Konkurrenz entscheiden, könnte es um den zerbrechlichen Friedensprozess in Nepal geschehen sein. Wird die Neutralität und Unabhängigkeit Nepals von Innen und Außen gewahrt, liegt in seiner geographischen Lage ein großes Potenzial für seine wirtschaftliche Entwicklung, vor allem durch den Export von sauberer Energie aus Wasserkraft und den Einnahmen aus dem Tourismus.

Ob und in welcher Form Indien wieder stärker Einfluss auf die Politik in Nepal nehmen wird, hängt vom Wahlausgang ab. Falls dort eine BJP-geführte Regierung an die Macht kommt, könnten hindu-nationalistische Gruppierungen aus ihrem Umfeld im Außenministerium Unterstützung suchen, um einen Umsturz zugunsten der bürgerlichen und monarchistischen Opposition vorzubereiten. Der dann drohende erneute Bürgerkrieg und die völlige Destabilisierung Nepals kann aber nicht im Interesse Delhis sein, argumentieren manche. Die maoistische Regierung beteuert immer wieder, wie zuletzt der Premierminister und Vorsitzender der UCPN-Maoist Pushpa Kamal Dahal am 25. März, dass die Partei zu ihrer Verpflichtung von 2006 stehe, als die Maobadi gemeinsam mit den bürgerlichen Parteien die autokratische Herrschaft von König Gyanendra beendet hatten: "Wir haben entschieden, Demokratie und Mehrparteiensystem, den Rechtsstaat, die Souveränität des Volkes, Pressefreiheit und Menschenrechte als integrale und fundamentale Bestandteile der neuen Verfassung  einzuführen".

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