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21. August 2010. Analysen: Indien - Geschichte & Religion Die Entstehung eines Parteiensystems in der indischen Union (I)

Die Entstehung von Parteien und Parteisystemen ist leichter historisch zu rekonstruieren, als verallgemeinerungsfähig zu theoretisieren. S. Lipset und S. Rokkan haben 1967 ein Modell vorgelegt, das historische Rekonstruktion mit dem Anspruch auf verallgemeinerungsfähige Aussagen verbindet, indem es die Entstehung von Parteien in Westeuropa aus einem verallgemeinerungsfähigen Konzept, dem sich universalisierenden Prozess der Modernisierung ableitet. Die Betonung liegt dabei auf Modell.

S. Lipset und S. Rokkan selbst mögen ihren Aufsatz als Essay, damit als ein Angebot von wesentlichen, aber keineswegs ausschließlichen Entstehungskontexten und Entwicklungslinien und deshalb als eine Methode strukturierender Beschreibung verstanden haben. Da es aber an dieser Stelle um die Frage geht, inwiefern Plausibilitätsannahmen, die am Beispiel Westeuropas entwickelt wurden, auch in einem nichteuropäischen Kontext Bestand haben, so werden im folgenden Entstehungschancen als Entwicklungsdeterminanten gesetzt. Der von Lipset/Rokkan implizierte Modernisierungsprozess zerfällt in vier spezifische Modernisierungsabläufe, die die entscheidenden Grundbedingungen moderner Staatlichkeit, Gesellschaft und Politik ausbilden: Es sind dies die Prozesse territorialer Erfassung also eines "state-", "institution-" und "nationbuilding"; es ist dies ferner der Prozess der Säkularisierung, der Durchsetzung eines laizistischen Staates; diesem Prozess folgt ein Prozess der Urbanisierung, der Durchsetzung städtischer, "bürgerlicher" Wirtschafts- und Lebensformen; die genannten Prozesse vollenden sich mit dem Prozess der Industrialisierung, also der Durchsetzung einer auf Industrieproduktion gegründeten neuen kapitalistischen Produktions- und Gesellschaftsstruktur. Für Lipset konstituieren diese vier Modernisierungsprozesse die wesentlichen Dimensionen des Modernisierungsprozesses anscheinend deshalb, weil sie parallel zu dieser vierfachen gesellschaftlichen Transformation eine Grundbedingung und die vier Zentralideologien der Moderne, also Säkularismus, Nationalismus, Liberalismus und Sozialismus breitenwirksam und strukturbildend durchsetzen. Auch die Abfolge der vier Prozesse scheint neben ihrer Unverzichtbarkeit für die Autoren festzustehen.

Zu einem Mechanismus und einer Grundbedingung der Parteienentstehung werden die vier Prozesse, weil ein jeder eine spezifische Konfliktlinie ausbildet. Diese Konfliktlinien repräsentieren Konfliktpotentiale und Mobilisierungschancen, entlang denen sich alte oder neue Interessengruppen und Bewegungen schließlich als Parteien herauskristallisieren können: So läßt die staatliche territoriale Erfassung und Konsolidierung eine von dem Gegensatz von Zentrum und Peripherie bestimmte Konfliktlinie entstehen, entlang der sich einerseits nationale Parteien, mit welchem Bild der Nation auch immer, und andererseits regionale oder ethnische Parteien formieren können, aber nicht müssen. In Ländern, in denen eine noch politisch und gesellschaftlich autonome, auf das Bildungssystem, die Rechtsprechung und die öffentliche "Moral" einwirkende Kirchenorganisation, also die katholische Amtskirche besteht, bringt die Durchsetzung eines laizistischen Staates wiederum eine spezifische Konfliktlinie hervor. Entlang dieser Konfliktlinie können sich einerseits Bewegungen und Parteien eines Staatslaizismus formieren, andererseits Parteien ausbilden, die die Interessen der katholischen Kirche offensiv oder defensiv vertreten. Der Prozess der Urbanisierung bringt eine Konfliktlinie hervor, auf deren einer Seite „bürgerliche“, liberale Parteien stehen, die städtische und zumeist freihändlerische Wirtschaftsinteressen vertreten, während auf der anderen Seite Parteien entstehen, die agrarische und oft protektionistische Wirtschaftsinteressen artikulieren. Der Prozess der Industrialisierung schließlich begründet die entscheidende Konfliktlinie zwischen Industriekapital und Industriearbeit. In unterschiedlicher Eindeutigkeit und Radikalität können entlang dieser Konfliktachse zum einen Unternehmerparteien und zum anderen sozialdemokratische, sozialistische oder kommunistische (Arbeiter) Parteien sich herausbilden.

So nützlich dieses Modell als ein Interpretationsinstrument westeuropäischer Parteienentwicklung sein mag, so fragwürdig wird sein Nutzen, wenn es auf außereuropäische Gesellschaften und Parteibildungsprozesse übertragen wird. Denn hier werden die verschiedenen expliziten und impliziten Annahmen des Modells zum Problem: Steht die Abfolge der Prozesse fest oder können sie auch parallel, in anderer Abfolge oder in Einzelfällen überhaupt nicht auftreten? Löst die modernisierungstheoretisch gesprochen jeweils "progressive" Partei, also die nationale, laizistische, bürgerliche und wirtschaftsliberale Partei jeweils eine Reaktion aus oder kann die Initiative von der Gegenseite ausgehen? Können die zuerst gebildeten Parteien die Stoßrichtung der folgenden Modernisierungsprozesse (mit) determinieren und die sich damit ergebenden neuen Konfliktfelder besetzen und Mobilisierungschancen monopolisieren? Stehen also (bestimmte) Parteien nicht nur am Ende, sondern am Beginn jener Prozesse, die vorgeblich ihre Entstehung auslösen und erklären?

Von Bedeutung für die koloniale Welt ist zudem: Welche Parteibildungsprozesse müssen wir erwarten, wenn dieser Prozess der Demokratisierung sich nicht gegen ein internes, ein "ancien regime", eine Monarchie, eine ständische Herrschaft, sondern gegen ein koloniales Regime richtet - und darüber hinaus die meisten Modernisierungsprozesse fehlen? Und schließlich: Wie müssen Parteibildungsprozesse in postkolonialen Staaten ablaufen, in Staaten also, in denen eine Unabhängigkeitsbewegung und Gesamtpartei einerseits die vier genannten Modernisierungsprozesse auslösen und kontrollieren muss, andererseits einen Prozess der Parteibildung auf ihre Kosten oder zu ihrem Nutzen tolerieren sollte?

Diese letzte Frage ist von besonderer Relevanz für die nun folgende, an Lipset/Rokkan orientierte Darstellung eines Parteiensystems in der indischen Union. Die Darstellung orientiert sich an dem Lipset/Rokkan-Modell, um die aufgeworfenen Fragen mit Hilfe eines außereuropäischen, nachkolonialen Beispiels sowohl zu illustrieren, als auch zu beantworten. Die Darstellung richtet sich auf die nachkoloniale Entwicklung, sie kann also nicht auf die seit 1900 in Indien bereits einsetzenden Parteibildungs- und kolonial gesteuerten Demokratisierungsprozesse eingehen. Sie richtet sich dafür auf ein demokratisches Experiment, das zumindest in seiner Größe und vermutlich in seiner Aussagekraft alle anderen denkbaren Fallbeispiele übertrifft: Mit einer Milliarde Menschen, 620 Millionen Wahlberechtigten und rund 320 Millionen aktiven Wählern organisiert diese nichteuropäische Demokratie ein Sechstel der Menschheit und damit weit mehr Bürger und Wähler, als alle anerkannten Demokratien der westlichen Welt zusammengenommen.

Diese Zahlen stehen zugleich für eine extreme Komplexität dieser föderalen Demokratie, denn, um nur ein Beispiel zu nennen, die sieben größten Bundesstaaten umfassen jeweils mehr Einwohner, als europäische Territorialstaaten wie Frankreich oder Großbritannien und die Bevölkerung der drei größten Bundesstaaten, Uttar Pradesh, Bihar und Maharashtra übertrifft die Gesamtbevölkerung der europäischen Union. Es ist hier weder möglich noch notwendig, die vielfältigen Parteibildungen in dieser ein halbes Jahrhundert, einen Subkontinent und mehr als eine Milliarde Menschen überspannenden Demokratie nachzuerzählen. Denn mit dem Konzept des auf den Aufstieg und den Niedergang des Congress zugeschnittenen "dominant one party system" steht seit vielen Jahren ein Interpretationsinstrument zur Verfügung, mit dem die Parteibildungsprozesse in der indischen Union in bezug auf die hier zu behandelnden vier Konfliktlinien dargestellt werden können. (W. H. Morris-Jones, J. Manor 1991)

Aufstieg und Niedergang des "Congressystems"

Der Congress ist, so dieses Modell, 1947 die einzige indienweit anerkannte, bürokratisch organisierte und zur Massenmobilisierung befähigte politische Bewegung und Partei. Ihre unbestrittene Vorrangstellung und ihr auf Konsenspraktiken ebenso wie das Charisma Gandhis und Nehrus gegründeter Zusammenhalt machen es der Führungselite möglich, einen Prozess des "nation-" und "statebuilding" mit Erfolg weiterzuführen. Insbesondere gelingt es, das Chaos der Teilung zu überwinden, mehr als 500 Fürstenstaaten einzugliedern, die Kontrolle über die Armee zu sichern, zügig eine neue laizistische und föderale Verfassung zu verabschieden und seit 1952 einen bis heute nicht unterbrochenen Ablauf allgemeiner demokratischer Wahlen zu initiieren. Über die ersten zwei Jahrzehnte kann der Congress diesen Vorrang, diese Kohärenz und deshalb eine ideologische Mittelpunktstellung bewahren, weil er bewußt oder unbewußt verschiedene Maßnahmen und Entscheidungen trifft, die ihn zum Garanten und Nutznießer einer jetzt breitenwirksamen Demokratisierung machen:

1. Der Congress setzt eine laizistische Verfassung durch, die es ihm gestattet, den in der Union verbleibenden Muslimen, rund 11 % der Bevölkerung, jetzt das Privileg eigener, "getrennter" Sitze zu entziehen, ihnen aber ein eigenes religiöses Zivilrecht beläßt. Unter den Bedingungen des Mehrheitswahlrechtes müssen die über ganz Indien verstreut siedelnden Muslimen und ihre Rumpforganisation, die Muslimliga, jetzt die Hoffnung auf eine eigenständige politische Repräsentation aufgeben und sich mit dem Congress verbünden.

2. Der Congress entschließt sich zudem, im Namen einer Politik der "positiven Diskriminierung" den Millionen von Unberührbaren, rund 15 % der Bevölkerung, das zuzugestehen, was er im Namen des Laizismus den religiösen Minderheiten verwehrt: Den Unberührbaren werden eigene Sitze, also Wahlkreise, in denen nur Unberührbare kandidieren dürfen, zugestanden und in den Schulen, Staatsbetrieben und im zentralen Verwaltungsapparat werden den Unberührbaren ihrem Bevölkerungsanteil entsprechende Quoten zugewiesen. Damit kann der Congress die politische Vertretung der Unberührbaren und einen wesentlichen Anteil ihrer Stimmen über Jahrzehnte an sich binden.

3. Die Verfassung schreibt eine föderale Union vor, in der aber, in Kontinuität zu den in dem Government of India Act 1935 eingeschriebenen kolonialen Kontrollinteressen, dem Zentrum Vorrang und weitgehende Interventionsrechte eingeräumt werden. Aufgrund der Konsenspraktiken Nehrus und der Führungselite entwickelt sich aber trotz der Kontrollchancen des Zentrums dennoch ein "kooperativer Föderalismus", bei dem Nehru als "Primus inter pares" zwischen den mächtigen regionalen Congressführern und Chiefministern vermittelt.

4. Zu dieser Entwicklung trägt in erster Linie ein lang anhaltender Prozess bei, der sich zumindest anfänglich gegen den Widerstand Nehrus Bahn bricht. Vor allem nach der Inkorporation der mehr als 500 Fürstenstaaten müssen die ohnehin zufällig entstandenen Provinzgrenzen neu gezogen werden. Eine "state reorganization" setzt sich durch, die die Grenzen der neuen Bundesstaaten jetzt nach den Grenzen der jeweiligen großen Sprachgruppen neu bestimmt. Damit entstehen regionalsprachlich homogene Bundesstaaten, in denen die jeweilige Landessprache Parlaments-, Verwaltungs- und Unterrichtssprache ist. Dies leitet eine folgenreiche Umwandlung, verstärkte Tiefenwirkung und Regionalisierung der Congressapparate ein. Neben die anglophone Congresselite treten jetzt die landessprachlichen regionalen Congressapparate. Letztere bilden jetzt vor allem die Urheber und Nutznießer einer verstärkten Mitgliederwerbung, in deren Verlauf die regionalen dominanten Kasten und lokalen Dorfautoritäten für den Congress gewonnen werden. Diese überlegene regionale Vormachtstellung macht es zudem den jetzt ethnisch und kulturell vielfarbigen Congressapparaten möglich, regionale Autonomiebestrebungen entweder zu absorbieren und zu folklorisieren oder auszugrenzen.

5. Der Congress und vor allem Nehru rücken schließlich auch von einer Forderung Gandhis und der hindisprachigen Provinzen ab, derzufolge Hindi auf gesamtindischer Ebene an die Stelle des Englischen treten sollte. Die ausschließliche Einführung dieser neuen, jetzt einheimischen Staatssprache droht den drawidasprachigen Süden der Union, vor allem das neugebildete Tamil Nadu, in eine kultur- und parteipolitische Konfrontation mit dem Norden zu bringen. Seit 1964 einigt man sich auf die Formel, dass Englisch als Staats-, Parlaments- und Verwaltungssprache solange mit dem Hindi koexistieren solle, wie "das indische Volk (dieser Sprache) bedarf". (J. Rösel 1998: 33-36)

Das Schlagwort von der "(verfassungsmäßigen und laizistischen) Einheit in der (regionalsprachigen, entpolitisierten und kulturellen) Vielfalt" umschreibt das Programm und den Erfolg dieses Maßnahmenbündels. Die Maßnahmen definieren damit zugleich Spielregeln, die der Congress nicht verletzen darf. Sie binden bestimmte Wählerschaften, die dem Congress eine absolute Mehrheit im Parlament sichern und sie schreiben ihm ein Parteiprogramm vor, das ihn auf eine ideologische Mittelpunktstellung verpflichtet. Der Congress kann mithin seine unbestrittene Autorität bewahren, solange er am Laizismus eindeutig festhält, ein Programm der sozialen Reform verfolgt, die Routinen des kooperativen Föderalismus respektiert, Autonomiebewegungen integriert und die Doppelsprachigkeit verteidigt. Im gleichen Zuge kann der Congress einerseits Minderheiten (Muslime und Unberührbare), andererseits die regionalen dominanten Kasten an sich binden. Diese Wählerschichten konstituieren rund ein Drittel der indischen Bevölkerung und Wähler. Solange die Oppositionsparteien in ideologischen Extremstellungen verharren, also koalitionsunfähig sind, sichert dieses Stimmendrittel - unter Bedingungen des Mehrheitswahlrechts - dem Congress die absolute Mehrheit in den regionalen Parlamenten und in der Lok Sabha. Alles kommt also darauf an, dass der Congress nicht nur im Mittelpunkt eines sich entwickelnden Parteienspektrums steht, sondern dass er zu wesentlichen Teilen ein solches Parteienspektrum in seinem Binnenraum und in der Form von Fraktionen einerseits abbildet, andererseits zusammenhält. (P. R. Brass: 64-98)

Drei sich wechselseitig beeinflussende Entwicklungen tragen seit dem Tode Nehrus dazu bei, dass diese weitausgreifende Mittelpunktstellung des Congress verlorengeht und dass alte und vor allem neue Parteien sich entlang der von Lipset/Rokkan genannten Konfliktlinien zeigen und sich schließlich verbünden. Die vier (Modernisierungs-) Prozesse - eine zunehmende Territorialkontrolle, die Errichtung eines laizistischen Staates, eine langsame Urbanisierung und Industrialisierung - gehen seit 1947 nicht mehr von der Kolonialmacht, sondern jetzt von einem congressdominierten Staat, dem "dominant one party system" aus. Alle vier Prozesse nehmen jetzt eine im Vergleich zur Kolonialzeit neue Breitenwirkung oder Beschleunigung an und sie beginnen sich deshalb notwendigerweise zu verselbständigen, also der Congresskontrolle auf Dauer zu entgleiten. Mit ihrer Macht und Eigenständigkeit verstärken die vier Prozesse damit auch die entsprechenden Konfliktlinien und die politischen Konfrontations- und Mobilisierungschancen. Diese könnte auch ein allmächtiger und allgegenwärtiger Congress auf Dauer nicht allein kontrollieren oder ausbeuten.

Es ist damit der Congress, der erstens aufgrund seiner weit über den Horizont der kolonialen Administration hinausreichenden Präsenz den Prozess territorialer Erfassung vorantreibt, der zweitens die Abstraktion eines laizistischen Staates zu einem auf regionaler und lokaler Ebene manifesten Grundsatzes erhebt, der drittens und viertens durch landesweite Entwicklungsprogramme, Aufbau von Staatsindustrien und die Begründung einer "mixed economy" den Prozess der Industrialisierung und Urbanisierung beschleunigt.

Der Congress stößt diese Prozesse an und kann oder will ihrer wachsenden Autonomisierung nicht entgegentreten. Aber auch unabhängig von diesen Entwicklungslinien und Konfliktpotentialen gerät der Congress als die fast einzige Kraft, die eine noch weitgehend ländliche und traditionalistische und zugleich ethnisch, religiös und sozial vielfältige Bevölkerung politisch mobilisiert, in seine eigene Erfolgsfalle. In dem Maße, in dem nicht nur dominante, sondern mittlere und niedere Kasten, unterschiedliche regionale und sektorale Interessengruppen im Rahmen der "membership drives" Zugang zur Congressorganisation finden, muss seine Integrationskraft versagen. Je komplexer die Fraktionsbildungen und Interessengegensätze innerhalb der Organisation werden und je mehr die Patronageanforderungen an diese im Zentrum und in den Regionen dominierende Partei anwachsen, desto rascher müssen die Routinen der Konfliktschlichtung und die Ressourcen der Patronage versagen. Der Congress kann nicht auf Dauer "all things to all men" sein oder bereitstellen. Er wird zum Opfer seines eigenen Demokratisierungserfolges.

Zur Tragik des Congressniederganges zählt aber, dass lange bevor sich diese kontraproduktiven Wirkungen der vier Modernisierungsprozesse und des Prozesses der Wählermobilisierung zeigen, der Congress seine Vorrangstellung selbst untergräbt, da er sich nicht an die von ihm selbst geschaffenen politischen Regeln und Staatsgrundlagen hält. Die Tochter Nehrus, Indira Gandhi, kann sich nur durch die Spaltung der Congressorganisation die Nachfolge und das Amt des Premierministers sichern. Erst sie und später ihr Sohn Rajiv Gandhi sichern ihre Macht über den Congress und des Congress über die anderen Parteien durch ihre Bereitschaft, politische Spielregeln oder Verfassungsgrundsätze zu verletzen. In dem von Indira Gandhi dominierten Congress finden keine parteiinternen Wahlen mehr statt und an die Stelle der Konsens sichernden Verhandlungsrituale treten Cliquenherrschaft und ein blinder Indira-Loyalismus. Vor allem aber untergraben Indira und Rajiv Gandhi die fünf die Stabilität der Union und den Vorrang des Congress sichernden Prinzipien und Verfahrensweisen: An die Stelle eines kooperativen Föderalismus tritt unter Indira Gandhi die Tendenz, mißliebige Landesregierung ob des Congress oder nicht des Congress mit Hilfe von "president's rule" abzusetzen und regionale Parteien zu spalten. (3)

Nachdem sich in Konsequenz dieser Politik seit Anfang der 80er Jahre im Punjab und in Kaschmir Aufstands- und Sezessionsbewegungen zeigen, greifen Indira Gandhi und nach ihrem Tode 1984 Rajiv Gandhi zu einer Rhetorik der Konfrontation, die den betreffenden religiösen Minderheiten der Sikhs und der (Kaschmir) Muslime verdeutlicht, dass sie als eine Bedrohung der nationalen Einheit und Sicherheit gelten. Diese nationale Einheit gründet sich aber, so zeigt diese neue Formel eines "Wir oder das Chaos", auf den Congress und die Hindu-Mehrheit. (1)

Seit Beginn der 80er Jahre ist auch an die Stelle eines sozialreformerischen zumindest vordergründig auf die niederen Kasten und die Unberührbaren ausgerichteten Wirtschaftsprogramms die Rhetorik der Wirtschaftsliberalisierung getreten. Die Unberührbaren verlieren in der Programmatik und der Wählerarithmetik der Partei ihren Sonderstatus. (2)

Da der Congress inzwischen seit langem die Kontrolle über die Politik in vielen der einzelnen Bundesstaaten verloren hat, so zögert Indira Gandhi auch nicht, sich mit regionalen Parteien, in einzelnen Fällen sogar mit separatistischen Bewegungen zusammenzutun, um ihren Einfluß im Zentrum zu sichern. Umgekehrt geht sie aber gegen gemäßigte Landesregierungen vor, sofern diese sich ihren Koalitionswünschen widersetzen. Damit schwächt der Congress die Fähigkeit der regionalen "Einheit in der Vielfalt" in der Regionalpolitik glaubwürdig zu vertreten. (4)

Schließlich zeigt sich eine zunehmende Neigung, jenseits des Zweisprachenkompromisses, Hindi und Englisch, in Nordindien die Ausbreitung des Hindi zu fördern. (5) (J. Rösel 1998: 37-45)
Vor allem aufgrund dieses selbstverschuldeten Verlustes an Glaubwürdigkeit, interner Kohärenz und Wählergruppen zeigen sich seit dem Ende der 60er Jahre neue Parteien und vom Congress nicht mehr erfasste politische Themen und ideologische Strömungen. Seit den 70er Jahren sind diese Konkurrenzparteien fähig, sich auch auf nationaler Ebene zusammenzuschließen und den Congress aus der Regierungsmacht zu drängen (1977 bis 1980). Seit den 80er Jahren beginnt der Congress kontinuierlich und irreversibel seine aus Minderheiten und dominanten Kasten bestehende Stammwählerschaft zu verlieren und seit den 90er Jahren zeigt sich schließlich - auf der Grundlage eines bislang endgültigen Congressniedergangs - eine doppelte Neuorientierung der indischen Politik: zum einen in Richtung einer jetzt zur Massenmobilisierung befähigten hindunationalistischen Partei - die den Congressäkularismus umdeuten will - zum anderen in Richtung ideologisch-komplexer Parteikoalitionen, die aber im Kern auf Regionalparteien gründen - diese wollen das alte Congressprogramm in einer dem Mobilisierungsgrad und den Sachzwängen Indiens adäquaten Form weitertragen - als "(Koalitions) Einheit, in der (Regionalparteien) Vielfalt". Viele dieser Konkurrenten des Congress sind aus ihm selbst ursprünglich hervorgegangen. Manche repräsentieren Bewegungen oder Parteien, die der Congress bereits vor der Unabhängigkeit entweder nicht absorbieren wollte oder konnte. Wiederum andere sind das Resultat von neuen Konfliktlinien und Themen, die der Congress zwar angestoßen hat, aber nicht mehr kontrollieren oder besetzen konnte oder wollte.

Auch wenn wir im folgenden diese alten und neuen Parteien und die entsprechenden Integrationsverluste des Congress im Lichte der vier jetzt vom Congress ausgelösten und verstärkten Modernisierungsprozesse betrachten, so darf nicht vergessen werden, dass jede dieser Parteien ebenso wie der Congress eine politisch und programmatisch komplexe Reaktion nicht auf einen, sondern zumeist auf mehrere der genannten Modernisierungsprozesse und Konfliktlinien darstellt. Dieser Kompositcharakter erhöht sich noch, wenn wir sehen, dass indienspezifische Faktoren - wie das Kastensystem, das Problem der Unberührbaren, die fortdauernde Existenz von Stammesgesellschaften - und spezifische Prozesse - wie die Entmachtung der Fürsten, die Enteignung des ausgedehnten Großgrundbesitzes und das politische Engagement einzelner Filmstars - die Parteienbildung mit prägen.

1. Der Prozeß der territorialen Erfassung

Die administrative Erfassung Indiens beginnt sich nach der Unabhängigkeit enorm zu beschleunigen. Der Prozess verbindet sich mit einem Entwicklungsversprechen und einem ländlichen Entwicklungs- und Selbstverwaltungsprogramm und er wird vorangetrieben von dem Congress, der einerseits Partei, andererseits Staat ist. Diese Doppelrolle führt dazu, dass der Congress als Partei oft tiefer in das Land hineinreicht als die jetzt vom Congress dominierte, einstige Kolonialverwaltung. Der Congress kann mithin den Ausbau und die Reichweite der staatlichen Institutionen nach seinen Interessen gestalten. Wieviel dabei noch getan werden muss, zeigt sich beispielsweise bei einer anläßlich der ersten allgemeinen Wahl 1952 durchgeführten Befragungsaktion: Ein Viertel der Befragten wußte nicht, daß Indien unabhängig ist, einem weiteren Viertel war unbekannt, dass Indien überhaupt jemals unter britischer Herrschaft gestanden hatte. Da sich der Staatsausbau auf dem Lande mit einem Entwicklungsprogramm verbindet, so zeigt sich dieses "institutionbuilding" als eine Ausdehnung der Patronagechancen und es treibt dem Congress weitere Wähler und Mitglieder zu.

Die Ausdehnung von Congress, Staatsverwaltung und Entwicklungsambitionen trifft aber in vielen, jetzt neu formierten und sprachlich homogenen Provinzen auf regionale politische Subkulturen, Bewegungen oder Parteien, die parallel zur kolonialen Demokratisierung seit 1920 entstanden sind und oft von der Kolonialmacht gefördert wurden. Nicht immer sind die Dank der "state reorganisation" regionalisierten und breitenwirksamen Congressapparate in der Lage, diese Bewegungen zu marginalisieren: In Tamil Nadu ist eine "dravidische Fortschrittsfront", die Dravida Munnetra Kazhagam aus Vorgängerorganisationen entstanden. Dank ihrer Verbindung mit einer tamilnationalistischen Filmindustrie verfügt diese DMK über größere Propagandachancen, wenn auch noch nicht Breitenwirkung und seit 1967 kann sie in einer ersten wegweisenden Parteienkoalition den Congress bis heute aus der Macht über Talmilnadu vertreiben. In dem der indischen Union zugeschlagenen (Ost) Punjab hält sich die religiöse und regionalistische Partei der Sikhminderheit, die Akali Dal und wird nach der Unabhängigkeit zum wichtigsten Kontrahenten des Congress.

In Assam wiederum, im Nordosten Indiens, geht aus einer assami-nationalistischen Studentenorganisation, die gegen die wachsende Überfremdung Assams durch zuwandernde Muslimbauern aus Ostpakistan/Bangladesch protestiert, Mitte der 80er Jahre eine schließlich gemäßigte Regionalpartei, die Asom Gana Parishad hervor. In Maharashtra und in Andhra Pradesh zeigen sich andere Formen einer regionalen Parteibildung. In Maharashtra, lange Zeit eine Provinz unter vollständiger Congressdominanz, entwickelt sich zunächst in der Hauptstadt Bombay eine Lokalpartei, die sich vor allem gegen die aus Südindien zuwandernden Migranten, aber auch in wachsendem Maße gegen zuwandernde Muslime wendet. Sie wird Shiv-Sena "Armee des Shivaji" genannt. Sie bezieht sich dabei auf Shivaji, den Begründer des Marathenreiches und erbitterten Widersachers der späten Mogulkaiser. Die Partei "veredelt", parallel zu ihren Wahlerfolgen, ihr Programm des militanten Fremdenhasses mit einem den Maharashtratraditionen angepaßten Hindunationalismus. Schließlich seit Mitte der 80er Jahre kann sie sich als hindufundamentalistische Marathenpartei in der ganzen Provinz gegen den Congress durchsetzen.

In Andhra Pradesh wiederum gründet Anfang der 80er Jahre das größte Idol der Telugu-Filmindustrie, der Filmstar Rama Rao, eine eigene, "Telugu-Land", Telugudesham genannte Partei. Der wie in seinen Filmen als Inkarnation Ramas oder Krischnas in seinem zum "Götterwagen" umgebauten Omnibus herumreisende Star kann seit Ende der 80er Jahre die Macht über Andhra Pradesh übernehmen und kultiviert jetzt die Doppelrolle des Regionalgottes und Landesreformers. In Westbengalen und in Kerala zeigen sich wiederum ganz andere Varianten regionalistischer Politik. In Westbengalen hat sich die Communist Party of India eine erste Kaderorganisation und breitere Basis bereits seit 1928 geschaffen. Sie wird rasch jenseits ihres kommunistischen Programms zur Trägerin eines kulturellen und vor allem ökonomischen Bengalinationalismus. Dieser Regionalnationalismus protestiert gegen die wirtschaftliche Vernachlässigung Westbengalens seitens des Zentrums und trauert insgeheim den Kolonialzeiten nach, in denen Kalkutta noch das politische, wirtschaftliche und kulturelle Zentrum Indiens war. Seit Ende der 60er Jahre übernimmt die kommunistische Partei in Westbengalen die Macht und kann sie, einzigartig in der Welt, auf der Grundlage eindeutiger demokratischer Wahlsiege bis heute bewahren. In einer vergleichbaren Wendung entwickelt sich die kommunistische Partei auch in Kerala zu einer de facto regionalen Partei, die gestützt auf bestimmte Kastenkoalitionen seitdem mit dem Congress um die Provinzmacht konkurriert. (R. Thakur: 271-274)

Auf weitere Beispiele offener oder von einer breiteren Programmatik verdeckter regionaler Parteibildung sei hier verzichtet. Solche Parteien sind fast in jedem Gliedstaat zu finden und in der Mehrzahl der Provinzen ist es diesen Parteien oder Parteikoalitionen inzwischen gelungen, den Congress aus der Macht zu drängen. In dem Maße, in dem Kasten- und Interessengruppen über eine eigene Mobilisierungskraft verfügten und der Congress seine Integrationsfähigkeit verlor, war diese Entwicklung absehbar, und sie ist der Größe und Komplexität Indiens auch angemessen. Mit Bitternis mussten lediglich die Congresselite und die regionalen Congressapparate bereits Mitte der 60er Jahre feststellen, dass der Aufschwung dieser Regionalparteien sich oft gerade dem Entwicklungsengagement und den Leistungen des Congress verdankte. Es war der Congress, der die technischen, administrativen und sozialen Infrastrukturen - also die Straßen, Buslinien, Energieversorgung, Poststellen, Kinohallen, Versammlungsräume und Schulen - geschaffen hatte, die jetzt von regionalen Künstlern, Journalisten, Wissenschaftlern, Volksschullehrern, Politikern und am Ende Dorfeliten genutzt wurden, um einem regionalistischen Programm und einer regionalen Partei zum Erfolg zu verhelfen.

Aus der Provinzebene, aus der regionalen Arena, zieht sich der immer noch kontrollmächtige Congress deshalb seit dem Ende der 60er Jahre zumeist auf der Grundlage eines politischen Handelns zurück. Er gibt sich mit dem Schattendasein oder der Rolle des "second best" der regionalen Congressapparate zufrieden, sofern er mit den regionalen Parteien Wahlabsprachen treffen kann, bei denen die Regionalpartei den Congress bei den Lok-Sabhawahlen, der Congress dagegen die Regionalpartei bei den Provinzwahlen unterstützt. Der vom Congress zunächst monopolisierte und verstärkte Prozess des institution-, state- und nationbuilding läßt damit unvorhergesehene, aber notwendigerweise regionale politische Kulturen, Bewegungen und Parteien entstehen, die dem demokratischen Ideal des Congress, Einheit in der Vielfalt zwar entsprechen, seine Machtstellung allerdings unaufhaltsam schwächen. Kaum eine dieser Parteien verfolgt separatistische Ziele, in ihrer überwältigenden Mehrheit befürworten sie das Ideal einer Union, eine Union allerdings, die den Provinzen größere Entscheidungsräume und Finanzquellen zugestehen soll.

Ein weiterer Prozess, die Durchsetzung eines laizistischen Staates, hat gleichermaßen unvorhergesehene und für den Congress kontraproduktive Konsequenzen, Konsequenzen allerdings, die die Basis der indischen Demokratie nicht verbreitern, sondern untergraben.

2. Die Durchsetzung eines laizistischen Staates

Der Congress hat sich seit Anbeginn und er hat den indischen Staat durch die Verfassung auf das Ideal des Laizismus verpflichtet. Nicht nur die fast bis zum Schluß abgelehnte religiöse Teilung des Subkontinents und die Notwendigkeit, die innerhalb der Union ablaufenden religiösen, "kommunalistischen" Massaker unter Kontrolle zu bringen, bestärken die Congressführung in ihrer Überzeugung, dass es zu einem laizistischen Staat nur die Alternative des fortdauernden Bürgerkriegs und der Staatsauflösung gibt. Ein Jahr nach der Unabhängigkeit wird Gandhi Opfer eines Attentats, das von Hindus durchgeführt wird, die dem militanten hindufundamentalistischen RSS nahestehen. Der Mensch, dem Indien in erster Linie die Freiheit schuldet und der mit seinem Leben für den Glauben eintrat, der Hinduismus sei auf das Prinzip der religiösen Toleranz gegründet, wird damit das Opfer einer Organisation, die diese Auffassung immer abgelehnt hat.

Der RSS fordert ein auf "Hindi, Hindu, Hindustan" gegründetes Indien, also ein hindisprachiges, vorrangig hindureligiöses Land, das nach Auffassung des langjährigen RSS-Führers Golwalkar ganz Südasien umfaßt und in dem die Muslime zum Glauben ihrer Väter rekonvertiert werden sollen. Nach der Ermordung Gandhis wird der RSS zunächst verboten, später werden ihm aber lediglich politische Aktivitäten untersagt. Der RSS geht nun zielbewußt dazu über, weitere Organisationen zu begründen, die sein hindufundamentalistisches Programm in unterschiedliche Kreise und Sektoren der indischen Bevölkerung tragen, während der wie eine Geheim- und Kaderorganisation operierende RSS diese Sekundärorganisation mit seinen Funktionären und Mobilisierungsressourcen unterstützt. Dadurch kann der RSS auch sicherstellen, dass diese "fünf Brüder", "Panch Pariwar" genannten Organisationen, zu denen neben ihm selbst eine Gewerkschaft, eine Kulturassoziation, eine Missionsorganisation und eine politische Partei gehören, einflußreich, nicht aber selbständig werden.

Die auf Dauer folgenreichste dieser "Bruderorganisationen" ist die "Jana Sangh", seit 1980 "Bharatiya Janata Party" genannte "indische Volkspartei". Ihre Gründung 1952 trifft bemerkenswerterweise nicht auf den Widerstand des Congress, weil der mächtige und konservative Congresspolitiker Vallabhai Patel sich für die Gründung stark macht. Bis zum Beginn der 80er Jahre bleibt die Partei im Wesentlichen bedeutungslos. Sie steht zunächst im Wettstreit mit anderen hindureligiösen, allerdings hindutraditionalistischen oder hindurestaurativen Parteien. Diese gehen auf Dauer unter oder in der Jana Sangh auf. Die Struktur einer RSS nahen Kaderorganisation sichert der Jana Sangh das politische Überleben und setzt ihr zugleich enge Grenzen. Ihr Programm erscheint obsolet und einheitsgefährdend, ihre Anhängerschaft - mittelständische Hindureformanhänger, konservative Brahmanenkreise und entmachtete Rajas - als bigott und anachronistisch. Dieser Zustand und diese Einschätzung ändern sich erst seit Beginn der 80er Jahre. Während dem von Indira Gandhi verhängten Ausnahmezustand hatte sich die Jana Sangh im Untergrund als eine kompetente und patriotische Widerstandsorganisation gezeigt und war als Teil der Janatakoalition 1977 an die Macht gewählt worden. 1980, im Schatten der triumphalen Rückkehr der Indira-Herrschaft, nennt die Partei sich jetzt zur Bharatiya Janata Party um. Sie bemüht sich, ihre RSS-Bindung vergessen zu machen, sie beruft sich jetzt auf Gandhi und verlangt zugleich eine interne Wirtschaftsliberalisierung, die ihrer neuen Klientel, dem Hindumittelstand von Unternehmern, Geldhändlern und Angestellten zugute kommen soll. (W. K. Andersen; S. D. Damle)

Die Partei bezahlt diese Öffnung hin zur alles entscheidenden ideologischen Mitte zunächst mit dem Entzug der RSS-Unterstützung. Der RSS unterstützt nach der Ermordung Indira Gandhis 1984 den Wahlkampf des Congress und demonstriert nebenbei, dass er inzwischen über mehr Mitglieder und Wahlhelfer vor Ort verfügt, als der unter den 18 Jahren der Indiraherrschaft organisatorisch ausgezehrte Congress. Seit Ende der 80er Jahre verschaffen aber ein zunehmender Opportunismus des Rajiv-Congress, der zunächst lokale Erfolg einer hindufundamentalistischen Agitation und die Forderung, auch für niederrangige Kasten Quoten zu schaffen, der BJP die Möglichkeit zur zweiten und schließlich zur stärksten Kraft neben dem Congress zu werden: Bereits Indira Gandhi hatte seit 1980 die politische und rhetorische Konfrontation auch mit den gemäßigten Vertretern der Sikhs und Kaschmirmuslime gesucht. Nachdem sie von zweien ihrer Sikh-Leibwächter im Herbst 1984 erschossen wird, brechen in ganz Nordindien, vor allem in Delhi, Pogrome an den Sikhs aus, die oft von lokalen Congresspolitikern angeführt werden. Der neue Premier, Rajiv Gandhi, greift nicht ein. In den kommenden Jahren zeigt die politische Reaktion des Premierministers gegenüber zwei kontroversen Rechts- und Verwaltungsentscheidungen, die einmal die Muslime, ein anderes Mal die Hindus begünstigen, dass der Staatslaizismus in den Augen der Congressführung kein unbedingtes Prinzip, sondern eine von Fall zu Fall modifizierbare Taktik der Wahlgeschenke und Wählermobilisierung ist.

Das ist Wasser auf die Mühlen der BJP, die inzwischen von einem grobschlächtigen "Hindi, Hindu, Hindusthan" abgerückt ist, den Säkularismus im Prinzip erhalten sehen will, aber in einer Form, die der "indischen Kultur und Tradition" - also der Hindu-Mehrheit - Anerkennung gibt und Sonderrechte wie das religiöse Zivilrecht der Muslime abschafft.
Die BJP hat auch parteitaktisch dazugelernt: In Ayodhya ist um eine Moschee, die vorgeblich durch die Zerstörung des Geburtstempels des Gottes Rama an dieser Stelle errichtet wurde, eine lokale Agitation entstanden. Sie erhält neuen Auftrieb, nachdem ein Distriktrichter plötzlich beschließt, der seit 40 Jahren geschlossene, der Rama-Verehrung vorbehaltene Teil des Gebäudes, sei für die Hindus zu öffnen. Die Agitation wird von einer der "Bruderorganisationen" des RSS, der "Vishva Hindu Parishad", also einer Hindukulturorganisation, nicht von der BJP getragen. Im Herbst 1989 ist aber eine im wesentlichen aus regional verankerten Parteien gebildete Koalition, die Janata Dal, an die Macht gekommen. Diese wird von der BJP politisch geduldet.

Der Premierminster dieser Koalitionsregierung, V. P. Singh, erklärt nun, dass er beabsichtige, künftig auch den „other backward classes“ und nicht nur den Unberührbaren besondere Unterstützung und insbesondere Quoten im Staatsapparat zu verschaffen. Rund 20 % der indischen Bevölkerung rechnen zu den höchsten und den höheren Kasten - Brahmanen-, Schreiber-, verschiedene Krieger (Rajput)- und Händlerkasten. Auf diese Kasten fallen aber weit mehr als 60 % der Stellen im Beamtenapparat, aber auch in den sozial geschützten Staatsindustrien. Diese Kastenelite wählt neben dem Congress überwiegend die BJP, bei den Unberührbaren und den niederrangigen Kasten hat die Partei selten Anhänger gefunden. Dieser Schlag gegen ihre wichtigste Wählerklientel beantwortet der Führer der BJP jetzt mit einer "Rathajattra", einem militanten religiösen Pilger- und Befreiungszug, der ihn in einem mythologisch umgestalteten Reisebus durch ganz Nordindien bis zur Ayodhya-Moschee führen soll. Die Rathajattra wird von überall aufflammenden Hindu-Muslim-Ausschreitungen begleitet und von der Janata Dal schließlich kurz vor Ayodhya verboten. Der BJP entzieht darauf der Janata Dal die parlamentarische Unterstützung, die Koalitionsregierung fällt. Bei den Wahlen 1991 kann sich zwar der Congress wieder die Macht sichern, aber nur mit Hilfe von unberechenbaren Koalitionspartnern und weil, der während der Wahl ermordete, Rajiv Gandhi durch seinen Tod der reformunfähigen Partei einen "Sympathiebonus2 sichert. (R. Thakur: 263-271)

Die BJP schafft jetzt mit 20 % der Stimmen zum ersten Mal den Durchbruch zu einer (nord)indienweit vertretenen Massenpartei. Sie weiß, dass dieser Erfolg nicht auf dem immer stärker in den Hintergrund tretenden hindufundamentalistischen Programm, sondern auf neuen Rahmenbedingungen, Klientengruppen und Propagandatechniken beruht - "The center no longer holds": Der Congress, reformunfähig und in seinem Binnenraum durch zu starke zentrifugale ideologische Strömungen und Interessengruppen gespalten, kann eine expansive Mittelpunktstellung nicht mehr halten. Damit ist potentiell Raum für zwei andere politische und ideologische Varianten - eine gesamtindische "Volkspartei" oder eine gesamtindische regionale Parteienkoalition. Auf der einen Seite könnten Koalitionen von de facto Regionalparteien die freiwerdende Mittelpunktstellung besetzen und das klassische Congressprogramm des Laizismus, der sozialen Reform und des kooperativen Föderalismus mit größerer Glaubwürdigkeit bei einer gleichzeitigen Aufwertung der Regionen weiterführen. Auf der anderen Seite könnte die BJP mit einem Programm, das den Laizismus modifizieren möchte, eine Wirtschaftsliberalisierung für die neuen städtischen "middle classe2" verspricht und einen stärker zentralisierten Föderalismus verlangt, die Mittelpunktstellung des Congress von rechts übernehmen.

Die BJP weiß, dass sie angesichts der fortdauernden Schwäche des Congress auch das soziale Konglomerat der "neuen Mittelschichten" - Unternehmer, Ladenbesitzer, Angestellte, aber auch Arbeiter- und Studentenschichten - zu sich herüberziehen kann und sie weiß, dass sie diese Gruppen dauerhaft nur an sich binden kann, wenn sie außenpolitisch nicht als Abenteurer und innenpolitisch nicht als Brandstifter auftritt. Unter diesen neuen Rahmenbedingungen und gegenüber diesen Klientengruppen erweist sich die seit 1991 fortdauernde Ayodhya-Agitation eher als lästig, denn als nützlich. Die BJP kann aber auf dieses Thema und die dabei eingesetzten neuen Propagandatechniken zunächst nicht verzichten: Die Agitation hat ihren doktrinären und farblosen Hindunationalismus zum ersten Mal bildkräftig, gewalttätig und zugleich zur Folklore gemacht. Die Agitation führt 1992 schließlich zur Erstürmung und Zerstörung der Moschee. Seitdem hütet sich die Partei aber davor, durch eine Weiterführung der Agitation - sie vermutet unter fast jeder Moschee einen Hindutempel - ihr Fernziel, also die Übernahme einer gegenüber dem Congress leicht nach rechts verschobenen Mittelpunktstellung zu gefährden.

Diese Strategie hat sich über die letzten Jahre ausgezahlt. Die BJP übernimmt zunächst und verliert auch wieder verschiedene Landesregierungen. Dies verschafft ihr die Möglichkeit, sich als einen jetzt konstanten regionalpolitischen Faktor neben dem oft schattenhaften Congress und den entsprechenden Regionalparteien in fast allen nordindischen Bundesstaaten zu etablieren. Kleinere Provinzwahlsiege im Süden gestatten es ihr, nützliche Verbindungen mit den entsprechenden Regionalparteien aufzubauen. Nicht nur der Congress oder die großen Regionalparteien, sondern auch die BJP ist deshalb für Koalitionsregierungen auf gesamtindischer Ebene vorbereitet und befähigt. 1996 setzt sich der Stimmen- und vor allem Sitzverlust des Congress fort, die BJP kann ihren Stimmenanteil von 20 % halten und verfügt jetzt über nicht nur hindunationale (regionale) Bündnispartner in der Lok Sabha. Der BJP-Führer L. K. Advani wird mit der Regierungsbildung beauftragt. Erst diese Aussicht auf eine hindufundamentalistische Zentralregierung führt die seit 1990, seit dem Fall der Janata-Dal-Koalition zerstrittenen Regionalparteien zu einer komplexen, aus drei "Koalitionskreisen" bestehenden 14-Parteienregierung zusammen. Sie wird vom Congress geduldet und, obwohl erfolgreich und nicht nur dauerhaft, vom Congress aus opportunistischen Gründen Ende 1997 fallengelassen. Bei den Lok Sabha Wahlen Anfang 1998 zeigt sich wiederum die gleiche seit 1991 gültige Konstellation: Weiteren Verlusten des Congress steht auf der einen Seite eine bei 25 % der Stimmen stabile BJP, aber mit einer ausreichenden Zahl von Koalitionsinteressenten gegenüber.

Auf der anderen Seite stehen jene mehr als 20 großen und mittleren Regionalparteien, die mehr als 50 % der Wählerstimmen erhalten haben, aber untereinander zerstritten sind. Diese Parteien haben mehr als 50 % der Wählerstimmen für Varianten eines Programms des Säkularismus, der sozialen Reform und des kooperativen Föderalismus erhalten. Die BJP übernimmt jetzt die Macht und setzt unter ihrem seit den 80er Jahren als moderat geltenden Premier Vajpayee alles daran, als (Hindu) Volkspartei zu erscheinen, die Indien nach außen Respekt und im inneren Wirtschaftsreformen verschafft. Nachdem wiederum durch Congressintrigen die Regierung Anfang 1999 ihre Mehrheit verliert, zeigen die im Oktober durchgeführten Neuwahlen zum wiederholten Male die gleichen Entwicklungslinien: Ein geschwächter Congress, eine stabile BJP, ausreichende Bündnispartner und heillos zerstrittene Regionalparteien, die unter sich mehr als die Hälfte der Stimmen kontrollieren.

Der Prozess administrativer Durchdringung, also des "institution-, state-" aber auch des "nation buildung" hat zur Ehre der Congressideale und zum Schaden seiner Macht fast überall offen oder verdeckt regionale Parteien entstehen lassen, die zumeist von Anfang an gegen Sezession, aber für Autonomie und eine regionale politische Kultur eingetreten sind. Aber diese unvorhergesehene, wenn auch zwangsläufige Parteienbildung hat bislang auf gesamtindischer Ebene keine politisch tragfähige Alternative zum Congress entstehen lassen. Der Prozess der Durchsetzung eines säkularen Staatswesens dagegen hat zunächst eine bedeutungslose hindufundamentalistische Oppositionspartei entstehen lassen, die sich weitgehend unvorhergesehen seit 10 Jahren aufgrund des opportunistischen Umgangs des Congress mit dem Staatslaizismus, seinem ungebremsten Niedergang und der Uneinigkeit der Regionalparteien jetzt zur einstweilen stabilen Alternative zum Congress entwickelt hat. Das Opfer dieser Entwicklung war und ist der Congress, aber bisher nicht das Prinzip des Säkularismus: Wer den Congress beerben will, muss im ideologischen Mittelfeld mit ihm konkurrieren und dabei mehr Wähler oder Koalitionspartner gewinnen als er. Jenseits der hindunationalen Stammwählerschaft von 20 % sind aber solche Wähler- oder Koalitionsklienten nur auf der Grundlage einer Bejahung des Laizismus zu gewinnen: Für mittlere und niederrangige Kasten, die das den BJP-Brahmanen und -Ideologen noch immer liebe Kastensystem ablehnen, für die Unberührbaren und Stammesgesellschaften, die es verachten, schließlich für die religiösen Minderheiten der Muslime und der Sikhs, bildet der Säkularismus die selbstverständliche Geschäftsgrundlage indischer Wählermobilisierung und Parteipolitik.

Einzelne, aber keine Gruppen mögen durch Toleranzrhetorik, Geschenke, Erpressung oder Paternalismus für die BJP gewonnen werden. Zusammen machen aber diese Gruppen rund 80 % der indischen Bevölkerung aus, also jene Bevölkerungsgruppen, die die BJP noch nie und auch seit 10 Jahren nicht gewählt haben. Der dauerhafte Eintritt in eine ideologische Mittelpunktstellung auf der Grundlage einer breiteren Wählerklientel wird deshalb der BJP die Anerkennung des Prinzips des laizistischen Staates abverlangen. Sie mag dieses Prinzip in Richtung auf eine schwer definierbare indische Kultur oder Hindutradition verwässern wollen, aber die Logik des Machterhalts, der Widerstand anderer Parteien und vor allem ihrer eigenen Koalitionäre und last but not least der Verfassungsrang des Prinzips stehen diesem Bemühen entgegen. Der Säkularismus, mit dem sich eine Jana Sangh nicht versöhnen wollte, setzt als politische Vorbedingung der Mehrheitsbeschaffung jetzt der BJP eine Grenze. Damit bleibt die Frage noch offen: Will die BJP den Säkularismus oder wird der Säkularismus die BJP umgestalten?

Die Prozesse der administrativen Erfassung und der Säkularisierung prägen also gerade jene Regionalparteien und jene "Volkspartei", die zur Abwehr dieser Prozesse und des sie monopolisierenden Congress angetreten sind. Im gleichen Atemzuge tragen diese Parteien zum Niedergang des Congress bei und sie begründen zugleich zwei neue, allerdings unvereinbare Entwicklungslinien gesamtindischer Politik. Auf der einen Seite steht die Aussicht auf eine verstärkte Regionalisierung und die Bildung von (Regional) Parteienkoalitionen, auf der anderen Seite die Aussicht auf eine verstärkte Zentralisierung und den Aufstieg einer hindunationalen Partei. Beide Parteienoptionen müssen ihren Platz einmal links und ein anderes Mal rechts von der schrumpfenden Mittelpunktstellung des Congress suchen. Die erste Option wird den Säkularismus verschärfen, die zweite wird ihn zu Gunsten der Abstraktion einer Hindunation abschwächen. Damit bleibt die Frage, ob von den anderen, vom Congress verschärften Modernisierungsprozessen und Konfliktlinien, Urbanisierung und Industrialisierung, vergleichbar weitreichende Wirkungen ausgehen.

 

Fortsetzung: Die Entstehung eines Parteiensystems in der Indischen Union (II)

 

Dieser Beitrag gehört zum Schwerpunkt: Südasien-Experten Spezial: Jakob Rösel .

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