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02. August 2009. Analysen: Politik & Recht - Indien Nordostindien: Experimentierfeld für Regionalautonomie

Nordostindiens autonome Distrikte zwischen Minderheitenschutz und Sezession

Indien mit seinen 114 anerkannten Sprachen, seinen größeren und kleineren Ethnien, den zahlreichen indigenen Völkern ist ethnisch vielfältiger als Europa. Geradezu zwangsläufig ist "Unity in diversity" eines der Leitmotive des indischen Staatswesens. Dennoch hatte Indien in seiner 62jährigen Geschichte mit zahlreichen Sezessionskonflikten zu kämpfen. Der Föderalismus sollte die zentrifugalen Kräfte auffangen, während militante Befreiungsbewegungen im Nordwesten und Nordosten immer wieder militärisch unterdrückt wurden. Weniger bekannt ist, dass Indien schon seit 1952 mit Verfassungsbestimmungen Territorialautonomien eingerichtet hat, die das Auseinanderfallen einzelner Bundesstaaten – vor allem Assams – verhindern sollten. Ist dieses Experiment gelungen? Hat sich Autonomie zur dauerhaften Konfliktlösung bewährt? Der Autor hat sechs der dreizehn bestehenden Autonomiegebiete besucht und zieht eine Zwischenbilanz.

In Europa ist regionale Autonomie ein weithin bekanntes Konzept territorialer Machtteilung, vor allem bei Konflikten zwischen Zentralstaaten und ethnischen Minderheiten. Immerhin gibt es nicht weniger als 37 autonome Regionen, die zu europäischen Staaten gehören. 1 In Südasien hat Territorialautonomie weit geringere Anwendung gefunden: eigentlich gibt es funktionierende Regionalautonomien nur in Indien, obwohl alle Länder – mit Ausnahme der Malediven – ethnische Vielfalt oder ethnische Minderheiten aufweisen. Während Pakistan einen widersprüchlichen Weg in der Gestaltung seines Föderalismus geht, ist dem Chittagong-Berggebiet in Bangladesh Autonomie zwar zuerkannt, aber nicht umgesetzt worden. In Bhutan gibt es keine territorialen Autonomierechte und in Nepal noch nicht. In Sri Lanka hat man Autonomie für den mehrheitlich tamilischen Nordosten nie ernsthaft ins Auge gefasst. Vielschichtige Diskriminierung radikalisierte viele Tamilen und führte schließlich zum gewaltsamen Kampf für einen eigenen Staat, der jüngst im Mai 2009 mit der militärischen Niederlage der Befreiungstiger von Tamil Eelam (LTTE) scheiterte.

Die "Sieben Schwestern" im Nordosten

Karte der autonomen Distrikte in Nordostindien
Karte der autonomen Distrikte in Nordostindien (es fehlt Gorkha Hill District Council im Bundesstaat Westbengalen) Foto: Thomas Benedikter

Bleibt nur das große Indien mit seinen größeren und kleineren Ethnien und Sprachgruppen, indigenen Völkern (Adivasi), die in Indien meist als "tribal peoples" (Stammesgesellschaften) benannt werden. 2 Gerade für letztere haben die Väter der Verfassung von 1950 schon vor 60 Jahren Autonomiekonzepte entwickelt und im 5. und 6. Anhang der Verfassung verankert. Insgesamt gibt es heute 13 solcher "Autonomer Distriktversammlungen" (autonomous district councils, ADC): Bodoland Territorial Council, North Cachar Hills und Karbi Anglong (Asom, früher Assam), Khasi Hills, Jaintia Hills und Garo Hills (Meghalaya), die ADC der Mara, Lai, Chakma in Mizoram, und die Tripura Tribal Area unter dem 6. Anhang der Verfassung (und Art. 244 Verf.) sowie das Darjeeling Gorkha Hill District (Westbengalen) und die Autonomen Bergentwicklungsdistrikte Ladakhs (Jammu&Kashmir). In diesen Distrikten üben gewählte Distrikträte legislative und judikative Funktionen aus, vor allem in Land- und Forstwirtschaft, Gewässernutzung, Regelung der kommunalen Selbstverwaltung. Erbschafts- und Familienrecht, Sitten und Bräuche. Diese Autonomieformen sollten vor allem im ethnischen Flickenteppich des Nordostens das Auseinanderfallen Asoms verhindern und Konflikte in den kleineren, später entstandenen Staaten des Nordostens auffangen. Doch konnte es das? Wie steht es heute um diese Regionalautonomien in der größten Demokratie der Erde?

Meghalaya: Autonomie oder misslungene Dezentralisierung?

Der kleine, 1972 geschaffene Bundesstaat Meghalaya (Sanskrit für "Wolkenheim", etwa so groß wie Slowenien) wird von zwei mittelgroßen autochthonen Völkern dominiert: den Khasi und den Garo. Bereits vor 1972, als dieses Gebiet zu Asom gehörte, waren drei autonome Distrikte eingerichtet worden: die Garo Hills, die Khasi Hills und die Jaintia Hills. Letztere werden vorwiegend von einer Untergruppe der Khasi, der Jaintia oder Pnar, bewohnt. Nach Gründung von Meghalaya hatte sich eine Distriktautonomie aufgrund der ethnischen Besonderheiten eigentlich erübrigt, die autonomen Distrikte blieben dennoch aufrecht und haben weiterhin einige Befugnisse inne.

Sitz der Regierung des Autonomen Distrikts der Jaintia Hills
Der Sitz der Regierung des Autonomen Distrikts der Jaintia Hills (Meghalaya) mit dem Dienstwagen des Distriktchefs Foto: Thomas Benedikter

Der Staat Meghalaya hat ihre Rolle allerdings zweifach eingeschränkt: zum einen schuf er mit Staatsgesetz den Grundsatz "Staatsrecht bricht Distriktrecht", zum anderen hängen die Distrikte am finanziellen Tropf des Bundesstaates Meghalayas und das Geld fließt spärlich. Als dritte Regierungsebene gibt es in diesem Bergland die Gemeinden (Dorfräte, panchayats), die nur zum Teil die traditionellen Stammesoberhäupter ersetzen. Diese nicht demokratisch gewählten Lokalherrscher berufen sich auf alte Rechte und stellen sich oft gegen die Distriktautonomie. Dazu gesellt sich eine in Indien weit verbreitete Verwaltungskultur, in der die knappen öffentlichen Mittel zwischen Filz, Korruption und Bürokratie versickern. Der Hang der politischen Elite bei geringster Transparenz mit den vorhandenen Ressourcen wie mit Privatvermögen umzugehen und sich so ein eigenes Klientelsystem aufzubauen, verhindere auch größeres Vertrauen der Bevölkerung in diese Form von Distriktautonomie. Durch die Begrenzung ihrer Gesetzgebungsautonomie von oben (Bundesstaat) und Aushöhlung ihrer Autorität von unten (traditionelle Stammespatriarchen) hat diese Autonomie nicht zu echter Dezentralisierung von Macht geführt, sondern wird eher als Gehege für Nachwuchspolitikern empfunden.

Nicht dezentrale Demokratie unter stärkerer Kontrolle einer kritischeren Wählerschaft ist das Ergebnis, sondern ein Klientelsystem auf unterem Niveau. Nicht einmal die Chancen auf eine eigene Sprachenpolitik wurden in Meghalayas autonomen Distrikten genutzt, obwohl dies zu den ursprünglichen Aufgaben des 6. Anhangs der Verfassung gehört. Englisch ist die offizielle Staats- und Distriktsprache, während die indigenen Amtssprachen nur sehr begrenzt in der Grundschule als Unterrichtssprache verwendet werden und im öffentlichen Raum so gut wie unsichtbar bleiben.

Karbi Anglong: Distriktautonomie im Widerstreit der Ethnien

Im mittleren Osten des Bundesstaats Asom leben eine Reihe von autochthonen Ethnien, die in Indien als "tribals" bezeichnet werden, ohne immer gängige Merkmale von Stammesgesellschaften zu führen. Sie unterscheiden sich vom Mehrheitsvolk der Assamesen in Sprache, Kultur und Geschichte (tibeto-burmesische oder austro-asiatische Ethnien), nicht unbedingt in wirtschaftlich-sozialer Hinsicht, denn auch für neue Zuwanderer ist die Landwirtschaft die wichtigste Erwerbsquelle. Im Distrikt Karbi Anglong bilden die Karbi die relative Mehrheit neben den Dimasa, den Rengma Tiwa sowie kleineren Gruppen und Angehörigen des Mehrheitsvolks der Assamesen.

In dem seit 1952 bestehenden Autonomen Distrikt 3 ist auch Karbi neben Assami als offizielle Sprache anerkannt, doch in der Verwaltung dominiert Englisch. In der verschlafenen Distrikthauptstadt Diphu tagt monatlich einmal das Distriktparlament, dessen 30 Mitglieder zum Teil (26) gewählt werden, zum anderen Teil (4) vom Gouverneur von Assam nominiert werden, um kleineren Minderheiten eine Vertretung zu sichern. Der von Delhi ernannte Gouverneur des Bundesstaats hat überhaupt gegenüber Indiens Distriktautonomien eine besondere Macht: er ernennt nicht nur einen Teil der Mitglieder der Distriktparlamente, sondern kann jedes Distriktgesetz rückverweisen oder an den Präsidenten zur Genehmigung weiterleiten. Er kann das Distriktparlament auflösen beziehungsweise suspendieren und ist umfassend für die öffentliche Sicherheit und Ordnung zuständig.

Landtag des Autonomen Distrikts von Karbi Anglong
Der "Landtag" des Autonomen Distrikts von Karbi Anglong in Diphu Foto: Thomas Benedikter

Die 12-köpfige Exekutivkommission, eine Art Distriktregierung, verwaltet vor allem einige Kernbereiche der regionalen Wirtschaft in Karbi Anglong (Land- und Forstwirtschaft, Gewässer, Tourismus, öffentliche Dienstleistungen), hat aber auch Befugnisse im Schulwesen, in Kulturangelegenheiten und in der unteren Gerichtsbarkeit. Doch wie oft ist der autonomen Politik im Distrikt nicht nur durch den Staat, sondern durch die Finanzen enge Grenzen gezogen, bedauert C.S. Terong, der "Distriktminister" für den Bereich Schule und Kultur. Finanziert wird der autonome Distrikt Karbi Anglong wie andere Distriktautonomien aus Delhi, doch das Geld fließt über Asoms Bundesstaatsregierung in Guwahati. Beim geringen Einkommensniveau seiner Bürger kann der Distrikt kaum eigene Steuern erheben, weshalb es der Regierung in Diphu schwer fällt, die wirtschaftliche und soziale Entwicklung des Distrikts maßgeblich zu steuern.

Karbi Anglong ist wie die südlich angrenzenden North Cachar Hills ein multiethnischer Distrikt. Damit stellt sich die permanente Herausforderung, ein konkordanzdemokratisches Einvernehmen unter verschiedenen politischen und ethnischen Gruppen herzustellen. Karbi als Amtssprache wird nur in geringem Ausmaß verwendet, denn lingua franca ist das Englische. Die kleineren Gruppen würden eine stärkere Rolle des Karbi gar nicht begrüßen. Doch auch für sie bietet diese Distriktautonomie zu wenige Entfaltungsmöglichkeiten. Nach dem Muster ähnlicher Fronten in Assam, Nagaland, Manipur und Tripura haben sich radikale Gruppen  gebildet, die bewaffnet gegen Armee und Polizei sowie zugewanderte Siedler vorgehen.

Eine Gruppe von Karbi in Diphu
Eine Gruppe von Karbi in Diphu, Hauptstadt von Karbi-Anglong Foto: Thomas Benedikter

Eine zweite Konfliktlinie läuft quer durch die Gesellschaft des Distrikts. Asom hatte nämlich über Jahrzehnte hinweg die Zuwanderung von Angehörigen des Mehrheitsvolks der Assami forciert, während die Distriktautonomie den Karbi und anderen autochthonen Ethnien keine ausreichenden Mittel in die Hand gab, diese Migration zu kontrollieren. Ein Problem, das Karbi Anglong nicht nur mit anderen autonomen Distrikten teilt, sondern mit dem Bundesstaat Asom selbst, der jahrezehntelang Zielgebiet von Zuwanderern aus anderen Landesteilen Indiens war, vor allem aus Bihar und Westbengalen. Radikale "Befreiungsfronten" wie die ULFA (United Liberation Front of Asom) gehen seit vielen Jahren militant gegen die Zuwanderung aus Bengalen und dem übrigen Indien vor.

Das autonome Bodoland

Bodoland-Befreiungstiger legen die Waffen nieder
Die Bodoland-Befreiungstiger legen die Waffen nieder – im Gegenzug gewährt die indische Regierung Autonomie für das Bodoland. Foto: ABSU - Bodofa

Die Bodos, ein Volk der tibeto-burmesischen Sprachfamilie, leben vor allem im westlichen, an Bhutan angrenzenden Teil Asoms, aber auch verteilt in größeren Gruppen im Brahmaputra-Tal. Einst Träger eines kleinen, aber mächtigen Königreichs, gerieten sie nach der Unabhängigkeit Indiens immer mehr in Bedrängnis: zum einen durch die Mehrheitsbevölkerung der Assamesen, zum andern durch die zunehmende Zuwanderung von Bengalen aus Bangladesh und Westbengalen. Bodo, eine Literatursprache, ist 2003 vom indischen Staat als Sprache mit Verfassungsrang (8. Anhang) anerkannt worden und wird laut Volkszählung von 1,35 Millionen Menschen gesprochen.

Im Unterschied zu anderen Regionen des Nordostens (North Cachar, Meghalaya, Karbi Anglong) erhielt das Kernland der Bodo in den 1950er Jahren keine Autonomie. Es war die studierende Jugend der Bodo, organisiert in der ABSU (All Bodo Students Union), die ab 1969 für Autonomie und Selbstbestimmung agitierte, wie später Studenten und radikalisierte Intellektuelle Asoms und kleinerer Ethnien Asoms ebenso (AASU, AAASU et cetera).

J. Brahma - ABSU
Der Generalsekretär der All Bodo Students Union ABSU, J. Brahma Foto: Thomas Benedikter

Sie stellten sich an die Spitze einer Bewegung, die in den 1980er Jahren immer radikaler gegen den Staat Assam vorging und in die Gründung der Bodoland Liberation Tigers mündete. Der bewaffnete Kampf um Autonomie forderte mehrere tausend Opfer. Schließlich lenkte die Bundesstaatsregierung in Dispur 1993 mit der Gewährung einer sehr halbherzigen Distriktautonomie ein. Nach neuerlichen Kämpfen – die Bodos operierten vor allem von Bhutan aus, von wo sie 2001/02 gewaltsam vertrieben wurden – und harten Verhandlungen kam es im Dezember 2003 zum historischen "Bodoland-Abkommen". Dies brachte den Bodos und anderen Minderheiten in einem langen Streifen zwischen Brahmaputra und Bhutan eine verstärkte Regionalautonomie nach Anhang 6 der indischen Verfassung.

Die 40-köpfige Regionalversammlung von Bodoland kann in 40 Sachgebieten Gesetze verabschieden, eine 12-köpfige Regionalregierung setzt sie um. Im Unterschied zu Karbi Anglong und den Distriktautonomien Meghalayas sind die kulturellen Autonomiebefugnisse stärker ausgeprägt. Bodo ist regional die zweite Amtssprache neben Englisch und Assami. In den meisten Schulen wird auf Bodo unterrichtet. Das Unterrichtssystem soll vorwiegend auf Bodo umgestellt und eine eigene Universität errichtet werden, fordern die jungen Bodos von der ABSU.

Zweisprachiges Schild Assam
Zweisprachiges Schild im Autonomen Distrikt Karbi Anglong (Assam) Foto: Thomas Benedikter

Im unscheinbaren Verwaltungshauptsitz des Bodoland Territorial Council in Kokrajhar führen jetzt die ehemaligen Befreiungstiger das große Wort. Doch äußert die ABSU den Verdacht, dass sich wie in Indien oft üblich Vetternwirtschaft, Klientelismus und Verschwendung breit machen. In fünf Jahren könne man keine auf allen Gebieten funktionierende Verwaltung aufbauen, meint der Chefbeamte P.K. Hazoary, zudem auch die finanziellen Mittel sehr beschränkt sind. 12 Bodo-Abgeordnete vertreten die Bodos im Parlament von Asom und zwei Bodos sitzen auch in seiner Staatsregierung. Auf regionaler Ebene stellt sich für die Bodos, die die relative Mehrheit bilden, die Herausforderung, auch die anderen indigenen Gemeinschaften und die nicht indigenen Bürger in die autonome Politik einzubeziehen. Man müsse aus der Autonomie das Beste machen, betont Hazoary, bevor ein Scheitern wie anderswo drohe. Doch die Region ist noch nicht zur Ruhe gekommen. Bei Fememorden und Abrechungen zwischen verfeindeten Bodoparteien sind 76 Menschen allein im Jahr 2008 ermordet worden.

Die Nepalis in Darjeeling fordern ein freies "Gorkhaland"

Teepflückerinnen am Stadtrand von Darjeeling
Teepflückerinnen am Stadtrand von Darjeeling Foto: Thomas Benedikter

In der weltweit für seinen exzellenten Tee bekannten Bergstadt Darjeeling kocht die politische Stimmung immer wieder auf. Von vielen Hausmauern grüßen Plakate mit der Forderung "We want Gorkhaland", die grünweißgelbe Fahne des Gorkhalands dominiert das Straßenbild. Die Nepali als Muttersprache sprechenden Bewohner des nördlichsten Distrikts von Westbengalen mit Hauptstadt Darjeeling sind erst seit rund 150 Jahren in diesem Himalaya-Vorgebirge ansässig. Früher gehörte Darjeeling zum Königreich Sikkim, bis es Mitte des 19. Jahrhunderts von den Briten unter Zwang von Sikkim abgetrennt wurde. Die Kolonialherren legten weiträumig Teeplantagen an, für deren Bewirtschaftung sowohl Nepalis aus dem angrenzenden Nepal als auch Adivasi aus Zentralindien angesiedelt wurden. Die Ureinwohner der Lepcha und Bhotia sind heute nur mehr eine kleine, aber für das Selbstverständnis der "Gorkhali" wichtige Minderheit, zumal dieses Gebiet als grundverschieden von den Bengalen im südlich angrenzenden Tiefland betrachtet wird.

Schon seit 1907 bemühen sich die Gorkhali um Loslösung von Bengalen und mehr Eigenständigkeit. Die Briten hatten das Gebiet willkürlich ihrer Verwaltungseinheit Bengalen zugeschlagen, und das änderte sich auch im unabhängigen Indien nicht. Trotz heftigem Protest der Nepali sprechenden Bergbewohner "erbte" Westbengalen das Gebiet von den Briten und betrachtet es heute als "seinen Himalayaanteil"; der einzige indische Bundesstaat mit Stränden und Eisgipfeln – so bewirbt das Tourismusministerium in Kolkata das Land. Doch seit 30 Jahren kämpfen die Gorkhali, zunächst geführt von der GNLF, der Befreiungsfront des Gorkhalands, um Autonomie. In den 1980er Jahren spitzte sich dieser Kampf dramatisch zu. In monatelangen Streiks, Blockaden, Hungerstreiks, Polizeirepression und Attentaten kamen 1.200 Menschen von 1986 bis 1988 ums Leben.

Bimal Gurung - GJM Darjeeling
Bimal Gurung, der Chef der Gorkhaland Janmukti Morcha, Darjeeling Foto: Thomas Benedikter

Schließlich wurde Darjeeling mit einem Staatsgesetz Westbengalens eine Sonderautonomie zugestanden – ein Kompromiss, der von echter Selbstregierung weit entfernt war. Der GNLF-Führer Subash Gisingh konnte sich als allmächtiger Chef der autonomen Behörde etablieren, die er wie ein Feudalherr regierte. Extremer Klientelismus, undemokratische Methoden, Verschwendung und Unfähigkeit führten dazu, dass Gisingh im Jahr 2007 nach immerhin 19 Regierungsjahren nicht nur aus dem Amt, sondern buchstäblich aus dem Land beziehungsweise Distrikt gejagt wurde. Die schwache Autonomieregelung und ihre noch schwächere Anwendung erfährt sogar der flüchtige Besucher: diese Touristenhochburg Westbengalens hat ein völlig vernachlässigtes Straßennetz, in Darjeeling türmt sich der Müll, der Strom fällt immer wieder aus, auch die Teewirtschaft ist in der Krise.

Diese fast traumatischen Erfahrungen mit einer unzureichenden Autonomie hat eine radikalere Partei auf den Plan gerufen, die Gorkha Janmukti Morcha (GJMM), die sich mit nichts weniger als mit einem eigenen Bundesstaat Gorkhaland zufrieden geben will. Nach dem Vorbild einiger kleiner Bundesstaaten Nordostindiens (Nagaland, Meghalaya, Mizoram, Arunachal), will sich die GJMM, geführt von Bimal Gurung, dem jetzigen Chef der Distriktregierung, loslösen von Kolkata, und die breite Mehrheit des Berggebiets steht hinter ihr. Doch aus verschiedenen Gründen umfassen die Pläne dieser Partei ebenfalls die Ebene einschließlich der Großstadt Siliguri und die von Dooars (Adivasi) besiedelten Gebiete der Teeplantagen südlich Kalimpongs und Westbhutans, wo nur etwa ein Drittel der Einwohner sich als "Gorkhali" fühlen. An allen Ecken und Enden des Berglands hängen die GJMM-Fahnen und prangen Gorkhaland-Parolen von Hausmauern, doch in der größten Stadt des Distrikts, nämlich Siliguri in der vorgelagerten Ebene, will die bengalische Mehrheit vom selbstständigen neuen Staat nichts wissen.

Gorkhaland Police Darjeeling
Eine Show der "Gorkhaland Police" in Darjeeling

In Westbengalen, Indiens drittem Staat unter langjähriger Dominanz der Kommunistischen Partei (CPI-M), wird das Projekt Gorkhaland mehrheitlich schroff abgelehnt. "Wir akzeptieren keine weitere Teilung Bengalens", das 1947/48 zwischen Pakistan und Indien geteilt wurde, argumentiert man in Kolkata, verschweigt dabei jedoch, dass Darjeeling nur durch einen Willkürakt der Briten Bengalen zugeschlagen worden ist. Höchstens eine Autonomie gemäß 6. Anhang der Verfassung will man den Gorkhali in Darjeeling zugestehen, die auf andere Problemlagen zugeschnitten ist und von den Gorkhali völlig abgelehnt wird. Zwar kann in der indischen Union das Bundesparlament in Neu Delhi auch gegen den Willen des betroffenen Bundesstaats ein neues Gebiet als Bundesstaat oder "Unionsterritorium" herauslösen, doch aufgrund der indischen prekären Mehrheitsverhältnisse und der überaus wichtigen Rolle, die die Bengalen in Indien als Ganzes spielen, ist dies wenig wahrscheinlich. Wie 1961 könnte sich rasch alles erneut zuspitzen, mit neuen Straßenkämpfen bis hin zu offener Gewalt. Wo Autonomie halbherzig und ineffizient eingerichtet worden ist, bleibt "Staatlichkeit" der einzige Ausweg. Die eben bestätigte Parlamentsmehrheit unter der Führung der Kongresspartei steht der Bildung neuer Bundesstaaten eher skeptisch bis anlehnend gegenüber. Dabei muss dem europäischen Betrachter bewusst sein, dass indische Bundesstaaten zum Teil über geringere Macht verfügen als autonome Regionen. Gerade das Fehlen einer akzeptablen und funktionierenden Regionalautonomie innerhalb von Bundesstaaten führt in verschiedenen Fällen zur Forderung nach einem eigenen Staat, auch wenn dieser noch so klein ist.

Fazit: Reformschub für mehr Regionalautonomie angesagt

Die Forderung nach Regionalautonomie wird in Indien von verschiedenen Ethnien und Regionen immer lauter vorgetragen, vom "tribal belt", dem großen zentralindischen Streifen von Madhya Pradesh bis Orissa und seinen zahlenmäßig bedeutenden Adivasi-Völkern wie den Santal, Gondi, Ho und Bhili, bis zu kleineren Gruppen wie den Karbi in Asom, den Rajbongshi im Distrikt Cooch Bihar in Bengalen, den Naga und Kuki in Manipur. Doch die Bildung neuer Bundesstaaten und Unionsterritorien ist in Indien stark umstritten. "Ethnische Autonomie" wird vor allem vom Kongress und den Linksparteien im Zeichen der nationalen Einheit abgelehnt. Andererseits sind die ethnisch bedingten Konflikte sowohl zwischen Bundesstaaten und kleineren Ethnien als auch in Zusammenhang mit Migrationsbewegungen zwischen den Bundesstaaten und innerhalb einzelner Bundesstaaten – zum Beispiel in Gebiete mit ethnischen Minderheiten - alles andere als gelöst. Im Nordosten Indiens ist klar geworden, dass die schwachen Formen von "Distriktautonomie" gemäß des 5. und 6. Anhangs der Verfassung nicht mehr ausreichen, um den Ansprüchen nach Selbstregierung nachzukommen.

Die Autonomen Distrikte Indiens im Überblick
Die Autonomen Distrikte Indiens im Überblick Foto: Thomas Benedikter

Auch in Zentralindien haben sich Dachverbände indigener Völker gebildet, die mit Nachdruck mehr Autonomie verlangen. Hier droht wie in Nepal während des Maoistenaufstands das Ineinandergreifen ethnischer Diskriminierung und sozialer Ausgrenzung, das den militanten maoistischen Guerillagruppen (Naxaliten) Vorschub leistet. Einerseits sind die bisherigen Formen von Distriktautonomie in verschiedenen Fällen an ihre Grenzen gestoßen (Gorkhaland, Karbi Anglong), zum anderen gibt es Indien allgemein keine mit legislativen Kompetenzen ausgestattete Regierungsebene zwischen den Bundesstaaten und den Kommunen. Dabei entspricht die Mehrheit der Bundesstaaten Indiens nach Fläche und Bevölkerung den großen oder mittelgroßen Staaten Europas. Somit ergibt sich eine solche Forderung nicht nur aus Gründen des Minderheitenschutzes und ethnischer Konflikte, sondern bildet auch ein Grunddefizit der indischen Demokratie. Rund 50 der 330 Distrikte Indiens – etwa vergleichbar den 270 Regionen Europas – haben sprachlich gesehen eine andere Mehrheit als der Bundesstaat, dem sie angehören.

Indien ist nicht nur ein relativ zentralistischer Staat mit ungewöhnlichen Vollmachten für die Unionsregierung, sondern dieser Zentralismus wiederholt sich auch auf Bundesstaatsebene. Regionalautonomie ist völlig unterentwickelt. Dies ist auch der Grund, warum Regionen (Distrikte) gleich einen eigenen Bundesstaat fordern. Traditionell hat Indiens politische Elite Autonomiebestrebungen abgelehnt oder aktiv bekämpft, weil man die zentrifugalen Kräfte fürchtete und Sezessionsbestrebungen immer entschieden militärisch bekämpfte. 4 Unter dem Eindruck der Teilung des Subkontinents und der Vielgestaltigkeit dieses Staates ist die "nationale Einheit" ein Grunddogma. Doch dabei hat man das Potenzial von Regionalautonomie zur Lösung ethnischer Konflikte und zur Schaffung regionaler Demokratie unterschätzt. Es geht nicht mehr nur um die Schaffung "ethnischer Reservate", sondern auch um moderne Autonomien, die konkordanzdemokratische Selbstregierung, territoriale Machtteilung und Minderheitenschutz bestmöglich verbinden. Das Recht auf Autonomie und ihre rechtlich-politische Ausformung innerhalb der Verfassung bedarf dringend eines Reformschubs.

Die größte indische Oppositionspartei BJP hat die Forderung nach einem eigenen Bundesstaat des Gorkhalands (Westbengalen) und Telenganas (Andhra Pradesh) in ihr Wahlprogramm aufgenommen. Der Regierungschef von Jammu&Kashmir, Omar Abdullah, will für seinen Bundesstaat eine zumindest teilweise Wiederherstellung der Sonderautonomie, die bis 1953 Geltung hatte. Die neue, wiederum von der Kongress-Partei und Manmohan Singh geführte Unionsregierung wird sich mit der Reform der substaatlichen Autonomien und Bildung neuer Bundesstaaten auseinandersetzen müssen.

 

 

Fußnoten

[ 1 ] Mehr dazu in T.B., Die Qualität von Autonomiesystemen im Vergleich, in: EUROPA ETHNICA Nr.1/2-2009, Braumüller Verlag, Wien 2009; und  in: "Autonomien der Welt – Eine Einführung in die Regionalautonomien der Welt mit vergleichender Analyse", ATHESIA, Bozen 2007

[ 2 ] Obwohl die meisten Ethnien Indiens, die sich selbst zu den "Adivasi" zählen, gleichzeitig auch offiziell und inoffiziell als "Tribal Peoples" bezeichnet werden, sind die beiden Begriffe nicht deckungsgleich. Vor allem im Nordosten gibt es einerseits "Tribal Peoples", die nicht als Adivasi kategorisiert werden können, zum andern kleinere Völker oder Ethnien, die zu Unrecht als Stammesgesellschaften bezeichnet werden. Offizieller Sprachgebrauch, Selbstbezeichnungen aufgrund politischer Opportunität und ethnologische Erfassung klaffen hier auseinander.

[ 3 ] Die indischen Distrikte entsprechen in der Größe und Einwohnerzahl etwa den Regionen in der Europäischen Union bzw. den autonomen Regionen Spaniens oder Italiens. In der EU gibt es bei 500 Millionen Einwohnern (Stand 2009) 270 Regionen, Indien ist bei 1,1 Milliarden Einwohner unterhalb der Bundesstaatsebene in 330 Distrikte gegliedert, die jedoch mit Ausnahme der 13 oben angeführten ADC keinerlei legislative Befugnisse haben.

[ 4 ] Allerdings hat die BJP derartige Forderungen in verschiedenen Fällen aus Gründen ihrer politischen Strategie unterstützt.

 

 

Im Frühjahr 2009 hat der Autor sechs der dreizehn bestehenden Autonomiegebiete Indiens besucht. Mehr zu diesem Thema in der eben (August 2009) erschienenen Publikation: T.B. (ed.), Solving Ethnic Conflict through Self-Government - A Short Guide to Autonomy in South Asia and Europe, EURAC Bozen, 2009, 140 Seiten. Kostenlos zu bestellen bei: minority.rights@eurac.edu.

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