Inhalt

18. Mai 2012. Analysen: Bangladesch - Wirtschaft & Soziales Ein Leben im Verborgenen

Sexuelle Minderheiten in Bangladesch

Unsere Blicke trafen sich zufällig. Flüchtig, und doch intensiv. Es war einer jener heißen, schwülen Abende, wie es viele gibt in Dhaka. Ich war auf dem Weg zurück vom NETZ-Büro zu meiner Unterkunft. Wie so oft, nahm ich einen der kleinen, überfüllten Busse, die zwischen den Stadtteilen Dhanmondi und Shyamoli pendeln. Und da saß er, auf einem der vorderen Sitze, ein hübscher junger Mann, gut gekleidet, mit auffällig vielen Ringen an den Händen. Es war dieser Blick, der mich neugierig machte – flüchtig, und doch intensiv. Wo er die vielen schönen Ringe her habe, fragte ich ihn auf Bengalisch, um ins Gespräch zu kommen. Von seinem "Boyfriend" antwortete er auf Englisch. Das war nicht ungewöhnlich, denn viele Bangladeschis verwenden die Begriffe "Boyfriend" und "Girlfriend", wenn sie von ihren Freunden sprechen. In diesem Fall aber war es anders. Hasan, so hieß der junge Mann, betonte die Silbe "Boy" auch beim zweiten Nachfragen in einer Weise, die keinen Zweifel zuließ: er sprach von seinem Liebhaber.

Der Bus war kein guter Ort für ein längeres Gespräch, deshalb stiegen wir beide im Zentrum von Shyamoli aus. Kaum waren wir aus dem langsam rollenden Bus gesprungen, zog er mich plötzlich hinter eine nahe Mauer und gab mir einen zärtlichen Kuss. Wow! Damit hatte ich nicht gerechnet. Es war ein schöner Moment, doch gleichzeitig jagte mir die bange Frage durch den Kopf: Was passiert, wenn uns jemand sieht?

Rechtliche Lage

Wie fast alle Nachfolgestaaten des britischen Raj hält auch Bangladesch bis heute an dem berüchtigten Artikel 377 des Strafgesetzbuches fest, dem so genannten Antisodomie-Gesetz, der 1860 von der britischen Kolonialmacht eingeführt wurde. Gemäß dieses Artikels kann "einvernehmlicher Geschlechtsverkehr wider die Natur" mit Männern, Frauen und Tieren - konkret: eine einvernehmliche "widernatürliche" sexuelle Penetration - mit einer bis zu lebenslänglichen Haftstrafe geahndet werden. Homosexualität ist in Bangladesch nicht gesetzlich verboten, männlicher homosexueller Geschlechtsverkehr jedoch, egal ob einvernehmlich oder erzwungen, wird durch das Antisodomie-Gesetz kriminalisiert. Auch wenn seit der Staatsgründung 1971 kein Fall bekannt geworden ist, in dem jemand auf Grundlage dieses Artikels strafrechtlich verurteilt wurde, so ist er doch ein Damoklesschwert für alle LGBTI (Anm. d. Red.: Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender and Intersex) in Bangladesch. Das gilt gleichermaßen für die anderen Nachfolgestaaten des britischen Raj, mit einer wichtigen Ausnahme: Indien. Nach langjährigem Druck von NGOs und mehreren Gerichtsprozessen wurde Artikel 377 des Strafgesetzbuches schließlich im Juli 2009 vom High Court in Delhi für verfassungswidrig erklärt. Seitdem ist einvernehmlicher homosexueller Geschlechtsverkehr unter Erwachsenen in Indien legal und straffrei. Das Schutzalter liegt bei 18 Jahren. Mit einer ähnlichen Regelung für Bangladesch ist in absehbarer Zeit nicht zu rechnen.

Sexuelle Subkulturen

Im Kontext von Bangladesch über sexuelle Identität zu sprechen, ist problematisch, denn traditionell identifizieren sich Bangladeschis nicht über ihre Sexualität. Deshalb gibt es im Bengalischen auch keine eigenen Begriffe für LGBTI, was aber nicht heißt, dass sie nicht existieren. Speziell in der großstädtischen Mittel- und Oberschicht hat sich über entspechende Internetgruppen, wie die Boys of Bangladesh, in den letzten Jahren eine schwule Subkultur entwickelt.

Nachdem Hasan mich geküsst hatte, setzten wir uns neben die Mauer und unterhielten uns. Er bezeichnete sich selbst nicht als schwul, homo- oder bisexuell, sondern als MSM, als ein Mann, der Sex mit Männern hat. Das ist recht typisch für Bangladesch und weite Teile Asiens, Afrikas und Südamerikas, wo LGBTI-Identitäten vielerorts als ein westliches Konstrukt wahrgenommen werden. Allerdings ist MSM kein Identitäts-, sondern ein verhaltensbezogener Sammelbegriff für alle Formen männlicher gleichgeschlechtlicher Sexualität, der sich im Kontext der HIV/Aids-Präventionsarbeit entwickelt hat. Auch für Frauen, die Sex mit Frauen haben, gibt es ein analoges englisches Akronym, das jedoch weniger bekannt ist: WSW.

Gute Freunde
Nur gute Freunde? Während in Bangladesch enge körperliche Nähe unter Männern und Frauen akzeptiert ist, sind LGBTI gezwungen, ein Leben im Verborgenen zu führen. Foto: Heiko Herold

Bis heute ist in Bangladesch die heterosexuelle Ehe die vorherrschende soziale Institution. Alternative Sexualitäten existieren innerhalb des heteronormativen sozialen Rahmens, der Heterosexualität als soziale Norm festlegt. Gleichzeitig ist die Gesellschaft primär homosozial geprägt. Deshalb werden intime Beziehungen zwischen zwei Menschen des gleichen Geschlechts nicht zwangsläufig als homoerotisch konnotiert. Wenn zwei Frauen Händchen halten oder ein Mann seinen Kopf in den Schoß eines anderen legt, wie man es in Dhaka oder anderswo im Land oft beobachten kann, dann wird den beiden nicht sofort ein homoerotisches oder gar homosexuelles Verhältnis unterstellt. Es ist einfach ganz normal.

Neben diesen allgemeinen Mustern gibt es noch zwei sozial anerkannte und äußerst stigmatisierte sexuelle Subkulturen in Bangladesch: Hijras und Kothis. Die bei weitem bekanntere der beiden Subkulturen ist die der Hijras, die auch als "drittes Geschlecht" bezeichnet werden. Von der Mehrheitsgesellschaft wird der Begriff verwendet, um Männer zu verunglimpfen, die nicht den gängigen Vorstellungen von Männlichkeit entsprechen. Bei jenen jedoch, die sich selbst als Hijra definieren, hat er sich zu einer positiven Bezeichnung für die eigene Identität entwickelt. Bei den Hijras handelt es sich um phänotypische Männer und Hermaphroditen (Anm. d. Red.: doppelgeschlechtliche Individuen), die sich weder als männlich noch weiblich definieren und weibliche Kleidung tragen. Meistens stammen sie aus ärmlichen Verhältnissen. Sie haben Sex mit Männern, die der Gemeinschaft nicht angehören, und übernehmen dabei die passive Rolle. Bis heute unterziehen sich die meisten Hijras einer rituellen Kastration, bei der sowohl die Hoden als auch der Penis vollständig entfernt werden. Dieser Eingriff, der meist im Verborgenen und ohne ärztliche Begleitung stattfindet, markiert die (physische) Transformation in das "dritte Geschlecht".

Hijras gibt es in Südasien seit vielen Jahrhunderten. Sie leben meist in hierarchisch organisierten Gemeinschaften unter der Leitung eines Gurus. Sowohl im Hinduismus als auch im sufistisch geprägten Islam der Region sind vor allem die kastrierten Hijras mit zahlreichen Mythen belegt. Da sie weder als Mann noch als Frau gelten, werden ihnen mystische Kräfte zugesprochen, die auch ihren Lebensunterhalt sichern: bei Hochzeiten und rituellen Feiern werden sie als Tänzer und Trommler engagiert, Neugeborenen erteilen sie ihren Segen. Allerdings sind viele Hijras auch darauf angewiesen, ihren Lebensunterhalt durch Betteln oder Prostitution zu verdienen.

Eine weniger bekannte sexuelle Subkultur sind die Kothis. Wörtlich bedeutet der Begriff "verweiblichte Männer". Was Kothis und Hijras miteinander verbindet, ist die Ablehnung der traditionellen sozialen Männlichkeit in Bangladesch. Häufig sind die Grenzen zwischen den beiden Subkulturen fließend, da viele Individuen im Laufe ihres Lebens zwischen ihnen wechseln. Während sich Hijras durchweg auch als Kothis bezeichnen, ist das umgekehrt nicht der Fall. Es gibt auch ein wichtiges physisches Unterscheidungsmerkmal: Kothis sind in der Regel nicht kastriert. Zudem führen Kothis nach außen meist ein heterosexuelles Leben, sind oft verheiratet und haben Kinder. Ihre homosexuellen Neigungen leben sie im Verborgenen aus. Es gibt einige Orte, wo sich Kothis mit anderen MSM treffen. Ein bekannter Treffpunkt ist der Ramna Park in Dhaka, wo auch viele männliche Sexarbeiter tätig sind.

Diskriminierungen

Auch Hasan war schon häufig im Ramna Park, erzählte er mir, um sich dort mit seinem Freund zu treffen und Sex mit anderen Männern zu haben. Meist trafen sie sich in den Abendstunden, zwischen 20-22 Uhr, wenn sich die Nacht über den Park legt. Im vermeintlichen Schutz der Dunkelheit fühlten sie sich am sichersten, sicherer zumindest als im grellen Tageslicht. Allerdings schützte sie das nicht vor Übergriffen: Hasan und sein Freund waren schon mehrfach im Ramna Park und andernorts angegriffen und geschlagen worden, meist von jungen Männern und Polizisten, nur weil sie als Homosexuelle identifiziert wurden. Beleidigungen, Schläge, Erpressung, ja sogar Vergewaltigung und willkürliche Verhaftung sind eine ständige Bedrohung für LGBTI in Bangladesch. Darauf haben Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch in den letzten Jahren immer wieder aufmerksam gemacht. Auch wenn bislang niemand gemäß des Antisodomie-Gesetzes verurteilt wurde, so bildet es doch die Grundlage für viele Repressalien gegen LGBTI. Die Täter kommen meist straffrei davon, weil die wenigsten Betroffenen sich trauen, Anzeige zu erstatten. Zu groß ist das Risiko weiterer Diskriminierungen und Repressalien, wenn ihre sexuelle Orientierung öffentlich wird. Hinzu kommt die Angst, auf Grundlage von Artikel 377 angeklagt und verurteilt zu werden.

Während sich die Hijras trotz ihrer Marginalisierung infolge des Antisodomie-Gesetzes bis heute zumindest in einer gesellschaftlichen Nische behaupten konnten, so gilt dies nicht für die anderen LGBTI in Bangladesch. Zu der gesetzlichen Kriminalisierung kommt die teilweise massive gesellschaftliche Diskriminierung hinzu. Viele LGBTI werden von ihren Familien verstoßen, wenn ihre sexuelle Orientierung bekannt wird. Meist fliehen sie in die Anonymität der Großstädte, doch auch hier ist die soziale Kontrolle groß, auch und gerade in den Slumgebieten.

Hasan lebte in ärmlichen Verhältnissen, aber er und seine Familie zählten nicht zu den extrem Armen. Er teilte sich eine bescheidene Wellblechhütte mit seinem älteren Bruder, dessen Frau und zwei Kindern. Sein Geld verdiente er als Krankenpfleger in einem der Krankhäuser in Dhanmondi. Er war sehr darauf bedacht, dass seine Familie nichts von seiner sexuellen Orientierung erfuhr, denn er fürchtete sich vor den Folgen. Sein Freund war ein älterer Mann, der zur oberen Mittelschicht gehörte. Hasan wusste, dass er nicht dessen einziger Liebhaber war, aber das störte ihn nicht. Auch er hatte hin und wieder Sex mit anderen, jüngeren Männern. Was ihn tief bedrückte, war das Drängen seiner Eltern und Geschwister, endlich zu heiraten. Er war 23 Jahre alt. Fast alle seine Freunde waren schon verheiratet und hatten Kinder. Einige Monate zuvor hatten seine Eltern eine Ehe mit einem Mädchen aus seinem Heimatdorf arrangieren wollen. Er hatte sich nach Kräften dagegen gewehrt, doch er wusste, dass er dem Drängen nicht mehr lange würde widerstehen können.

Obwohl wir uns nur flüchtig begegnet waren, gab mir Hasan tiefe Einblicke in sein Seelenleben - und tiefe Einblicke in die schwierige Lebenssituation von LGBTI in Bangladesch. Warum er gerade mir sein Herz öffnete? Ich weiß es nicht. Vielleicht war er einfach froh, jemanden zu haben, mit dem er über all das reden konnte, was er sonst immer verschweigen und verleugnen musste, jemand, von dem er keine Repressalien zu befürchten hatte. Unsere Begegnung liegt schon sieben Jahre zurück, und doch kann ich mich noch genau daran erinnern, als hätte sie erst vor wenigen Tagen stattgefunden. Zum Abschied gab mir Hasan die Handynummer seines Bruders, er selbst besaß kein Mobiltelefon. Ich nahm ihn in den Arm und wünschte ihm alles Gute. Noch ein zärtlicher Kuss, dann machte er sich auf den Heimweg.

LGBTI-Organisationen

Hasans Erzählungen hatten mich tief bewegt, und ich begann, mich intensiver mit dem Thema LGBTI in Bangladesch zu beschäftigen. Schon damals, im Frühsommer 2005, gab es einige NGOs im Land, die sich LGBTI und männlichen Sexarbeitern widmeten, allerdings fast ausschließlich im Kontext der HIV/Aids-Präventionsarbeit. Am bekanntesten ist sicher die 1996 gegründet Bandhu Social Welfare Society, deren Geschäftsstelle in Dhaka ich im Juni 2005 besucht habe. Inzwischen kümmert sich diese Organisation um LGBTI in neun bangladeschischen Städten im Rahmen von Projekten zur Sexualgesundheit.

In den letzten zehn Jahren haben sich zudem einige bangladeschische LGBTI-Organisationen gebildet. Dabei handelt es sich überwiegend um Internetgruppen wie die bereits erwähnten Boys of Bangladesh und die Bangladesh Association for Gays. Auch für Frauen, die Sex mit Frauen haben, gibt es eine solche Plattform, die Yahoo-Gruppe Sakhiyani. Allerdings setzt die Mitgliedschaft in solchen Gruppen Alphabetisierung und einen Internetzugang voraus, so dass sich dort fast ausschließlich Angehörige der Mittel- und Oberschicht miteinander vernetzen. Inzwischen gibt es auch einige Aktivisten, die sich öffentlich für die Abschaffung des Antisodomie-Gesetzes einsetzen und an internationalen LGBTI-Konferenzen teilnehmen. Allerdings finden sie in Bangladesch kaum Gehör und sie haben jenseits der informellen Internetgruppen kaum einen organisatorischen Rahmen, auf den sie sich stützen können. Die wichtigste Unterstützung kommt von NGOs und internationalen Organisationen aus dem Ausland. So forderte etwa der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen 2009 im Rahmen seines allgemeinen periodischen Überprüfungsverfahrens die bangladeschische Regierung auf, das Antisodomie-Gesetz abzuschaffen. Indien ist hier bereits mit gutem Beispiel vorangegangen, die bangladeschische Regierung jedoch ist noch immer konsequent dagegen.

Was aus Hasan geworden ist? Ich weiß es nicht. Wir haben uns nie wieder gesehen, seinen Bruder habe ich nie angerufen. Ich wollte es nicht. Vermutlich hat er geheiratet, vielleicht hat er Kinder. Und sicher lebt er seine homosexuelle Orientierung weiterhin nur im Verborgenen aus. Es stimmt mich traurig, wenn ich daran denke.

 

 

Quelle: Dieser Beitrag erschien in der Ausgabe 01-2012 der Bangladesch-Zeitschrift NETZ zum Thema "Am Rand der Gesellschaft - Sexuelle Minderheiten in Bangladesch". Die Zeitschrift können Sie auf www.bangladesch.org/zeitschrift bestellen.

Kommentare

Als registriertes Mitglied können Sie einen Kommentar zu diesem Beitrag verfassen.