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09. August 2013. Analysen: Weltweit - Kunst & Kultur 10. Indisches Filmfestival Stuttgart

Auf der Suche nach dem richtigen Leben

Das 10. Indische Filmfestival in Stuttgart präsentierte vom 17.-21. Juli 2013 ein spannendes und vielfältiges Programm. Mehrere Festivalbeiträge behandelten existenzielle Fragen, wie sie gegenwärtig überall auf der Welt diskutiert werden: Wie können wir uns dem permanenten Konsum-, Leistungs- und Selbstoptimierungsdruck entziehen? Wie finden junge Menschen heraus, was das „richtige Leben“ für sie sein kann, wenn die Familie ganz andere Pläne für sie verfolgt? Fast ohne pädagogischen Zeigefinger, dafür mit großer Lust an formal-ästhetischen Experimenten, großartigen Bildern und Farben, neuen Perspektiven auf gesellschaftliche Realitäten und interessanten Charakteren, die einen weit über das Festivalende hinaus begleiten.

Wie ein Narr kommt der namenlose Revolutionär anfangs daher, mit wilder Bemalung im Gesicht und einer klaren Botschaft, die er einer kleinen Gruppe von Studenten immer wieder auseinander setzt: ein Leben ohne Geld ist möglich, das postmonetäre Zeitalter keine naive Utopie, sondern eine Möglichkeit, die es zu ergreifen gilt. Früher war er selbst ein Rädchen im neoliberalen System, doch nach einem Schicksalsschlag hat er sein Leben radikal neu ausgerichtet. Dass die Jüngeren in ihm alles andere als einen Narren sehen könnten, macht ihn zur Bedrohung für all jene, die die bestehende Ordnung stützen und bemüht sind, ihren Nachwuchs auf eine bestmögliche Performance darin einzuschwören. Die Geschichte steht am Ende des Episodenfilms „500 x 5“ (2012) des tamilischen Regisseurs Raghu Jeganathan, dessen Einzelepisoden durch einen 500-Rupienschein und einen Tamil-Song miteinander verbunden werden, der uns immer wieder in Erinnerung ruft, dass das Geld die Wurzel von so viel menschlichem Leiden und Unglück sei. Der Film feierte seine internationale Premiere auf dem 10. Indischen Filmfestival in Stuttgart, in Indien selbst konnte er bislang kaum in den Kinos gezeigt werden. Ein Problem, mit dem unabhängige und experimentelle Filmschaffende aus dem Spiel- und Dokumentarfilmbereich in Indien permanent konfrontiert sind. Es ist schon äußerst schwierig, überhaupt das Geld für einen Film zusammen zu bekommen, doch beinahe noch größer scheint die Herausforderung, den Film am Ende zu seinem Publikum bringen und endlich zeigen zu können. Internationale und nationale Filmfestivals können hilfreich sein, doch ein Garant dafür, dass es die Filme irgendwann in die Kinos schaffen, sind sie nicht. Dabei werfen auch kommerziell produzierte Filme in Indien immer häufiger Fragen nach den Möglichkeiten und Bedingungen eines richtigen und guten Lebens auf, für das sich jeder junge Mensch in Indien individuell entscheiden können sollte - und teilweise muss.

Festivaleingang
Eingangsbereich mit dem Roten Teppich. Das Festival feiert sein zehnjähriges Jubiläum in der Stuttgarter Innenstadt. Foto: Filmbüro Baden-Württemberg e.V.

Eine solche Coming of Age-Geschichte erzählt auch der Malayalam-Film „Ustad Hotel“ (2012), in dem sich der junge Feyzee trotz privilegierter Kindheit in den Arabischen Emiraten und Ausbildung in der Schweiz ganz bewusst zu einem „Downgrading“ der besonderen Art entschließt: Kulinarik mit orignalem Flavour, wie es offenbar nur der Herkunftsort der Familie in Kozhikode (Calicut/Kalikut) an der Küste des Arabischen Meeres im Norden Keralas zu bieten hat; eine alternative Familie, in deren Zentrum der Großvater steht, Hüter der malabarischen Gewürze und auch manch anderer Geheimnisse. Feyzee wählt das einfache, aber für ihn erfüllende Leben anstelle der internationalen Karriere und er ist aktiv beteiligt am David-Sieg des kleinen Ustad Hotels gegen die Goliath-gleiche Übermacht einer expandierenden Hotelkette. Zweifellos handelt es sich hier um eine regionalisierte Desi-Geschichte nach bewährtem und auch aus der Hindi-Filmindustrie bekanntem Muster, die sowohl für die vielen aus Kerala stammenden ArbeitsmigrantInnen, für die von den rasanten Veränderungen in ihrer Heimat enttäuschten NostalgikerInnen, aber auch für potenzielle Kerala-Reisende und vor allem für junge Menschen aus der Region hervorragend funktionieren dürfte. Doch zu der Tatsache, dass „Ustad Hotel“ in Kerala ein Riesenerfolg war, haben sicher auch die pointierten Dialoge von Anjali Menon und die bei allen Unwahrscheinlichkeiten des Films dennoch glaubwürdigen Charaktere beigetragen. Für ein nicht-indisches Publikum, vielleicht auch für ein indisches, liefert „Ustad Hotel“ eine ganze Reihe ungewohnter Bilder und Erzählungen über die Lebenswelten der Muslime aus Kerala, deren Kultur, Religion und Lebensstile durch die Migration in die Emirate und durch den beschleunigten Wandel in der Region selbst in den vergangenen Jahrzehnten stark verändert wurden. Wie eine transnational verstreut lebende muslimische Mittelschichtsfamilie aus Kerala lebt, denkt und fühlt, wie sich die Familien- und Geschlechterbeziehungen verändern und welchen Islam die künftigen Generationen als Teil ihrer Identität betrachten wollen, darüber nun Filme aus Indien sehen zu können, ist ein besonders interessantes Novum. Für den lebensweisen Großvater ist selbstverständlich auch diese Frage bereits gelöst. Sein Islam ist der des gelebten Sufismus und es zieht ihn immer wieder auf die Reise und spirituelle Suche über die Grenzen Keralas hinaus - auch wenn nicht ganz klar ist, in welcher Region Indiens er die tanzenden Derwische aus Konya anzutreffen hofft, die ihm in einer Filmszene vor dem geistigen Auge erschienen sind.

Festivalelefant
Der Elefant flankiert den Eingang des Metropol-Kinos in Stuttgart und lädt zum Festival ein. Foto: Filmbüro Baden-Württemberg e.V.

Noch ein weiser älterer Mann steht in dem außergewöhnlichen Film „Akashathinte Niram“ (Malayalam, 2012) von Dr. Biju im Zentrum der Handlung. Die Geschichte eines Diebes, der das gute Leben im Einklang mit der Natur auf einer abgelegenen Insel bei besagtem alten Mann erfährt und daraus vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben eine Zukunftsperspektive für sich entwickeln kann, kommt mit sehr wenigen Worten aus. Die Bilder sind dafür umso eindrücklicher, ebenso wie die Leistung der SchauspielerInnen in diesem besonderen Film. Und auch hier sind es wieder alternative Familien, unerwartete Gemeinschaften, die entstehen und die einen Zusammenhalt versprechen, der auf gegenseitiger Anerkennung und Respekt und nicht auf Kontrolle und Zwang beruht. In dieser filmischen Utopie wird eine weitere bemerkenswerte Utopie angedeutet, die das Thema Altern und Sterben betrifft: Der alte Mann arbeitet mit einem jungen Arzt zusammen, gemeinsam betreuen sie todkranke Männer aus allen Teilen und sozialen Schichten Indiens, die hier eine letzte Heimat finden und einen Ort, der weit mehr als eine Zufluchtsstätte ist. Es ist kein Ort des Siechtums und der zur Passivität verdammten kranken Körper, sondern das Haus ist erfüllt von sozialem Leben, von Arbeit und Kreativität und von individuellen Entfaltungsmöglichkeiten, die nicht als Beschäftigungstherapie verordnet, sondern nach eigenem Wunsch und Interesse von den Männern ausgeübt werden. „Produktiv“ bis an ihr Lebensende sind sie also nicht im neoliberalen Sinne, sondern im Sinne einer erfüllten und selbstbestimmten letzten Phase ihres Lebens.

Wenn sich die Frage, wann wir welche Entscheidungen für eine bestimmte Lebensweise treffen können und wollen, als einer der roten Fäden ausmachen lässt, die das Programm des 10. Indischen Filmfestivals in Stuttgart durch verschiedene Formen und Genres durchziehen, so lassen sich daneben noch zahlreiche weitere Themen ausmachen. Es ist deutlich zu spüren, dass das indische Kino hier in seiner Vielfalt und gesellschaftlichen Relevanz ernst genommen und gebührend gefeiert wird, das zentral gelegene Metropol-Kino in der Stuttgarter Innenstadt bietet hierfür auch einen passenden Rahmen. Wenn es dann doch noch geschieht, dass angesichts der farbenfrohen Außendekoration vorbeigehende Passanten „ach so ja, Bollywood“ murmeln und partout nicht verweilen möchten, so ist das zwar bedauerlich, aber kein Grund zum Verzagen. Irgendwann wird es sich bis nach Berlin herumgesprochen haben: Die können wirklich fast alles im Ländle, auch indisches Kino.

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