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13. Mai 2002. Analysen: Geschichte & Religion - Südasien Schiiten in Südasien

Die muslimische Glaubensrichtung des Schiismus nimmt innerhalb der weltweiten Gemeinschaft der Muslime – der Ummah – eine untergeordnete Rolle gegenüber der sunnitischen (orthodoxen) Mehrheit ein. So ist es auch im südasiatischen Kontext, wo mehr als 50 Millionen Schiiten leben.

Dennoch besaßen bzw. besitzen die Schiiten, insbesondere in Afghanistan, Indien und Pakistan, eine bedeutende Position innerhalb der Gesellschaft und des dortigen Islam. Es sollen hier die verschiedenen Gruppen innerhalb des Schiismus in ihrer Entstehung, ihren Differenzen zueinander, aber auch gegenüber den Sunniten erläutert werden. Ihre Verbreitung in Südasien wird ebenfalls dargestellt.

Entstehung der schiitischen Glaubensrichtung

Schiiten glauben, wie alle Muslime, an die Einzigartigkeit (1) Gottes (Allah) und verstehen Mohammad als den letzten Propheten in der Reihe seiner Gesandten. Ebenso betrachten Muslime den Koran als die endgültige Offenbarung Allahs. Schiiten haben eine eigene Rechtstradition. Zur Klärung der Unterschiede zwischen Schiiten und der Majorität der übrigen Muslime muß die frühislamische Geschichte herangezogen werden, genauer: Der Streit um die Nachfolge des Propheten im Jahr 632 n.Chr..

Die Mehrheit der Muslime einigte sich auf einen Stellvertreter (Kalifen), der sowohl die religiöse als auch politische Führung der Ummah in sich vereinen sollte. (2)

Dem widersprach eine Minderheit, die der Überzeugung war, daß der Nachfolger Mohammads aus seiner Familie stammen müsse. Sie betrachteten Ali, der zugleich Vetter und Schwiegersohn des Propheten war, als den von Allah bestimmten Kalifen. Ali war der engste männliche Verwandte des Propheten. Doch trotz der Parteinahme für Ali (Shiat Ali – bedeutet die Partei Alis) wurde dieser übergangen und erst 656 nach den Kalifen Abu Bakr, Omar und Uthman (Othman) zum Kalifen bestimmt. Doch im Verständnis der Schiiten war die Ernennung bereits zu spät. Zudem erkannten auch andere Teile der Ummah Ali nicht als ihren Führer an. So standen zwar die muslimischen Garnisonen im heutigen Irak hinter Ali, doch die in Syrien stationierten Truppen unter dem Kommando von Mu’awiya verweigerten sich Ali. Im Interesse der Einheit des Islams suchte Ali einen Kompromiss. Seine Bemühungen führten jedoch zu einem erbitterten Streit und einige seiner Anhänger verließen ihn enttäuscht. Diese wurden als Kharijiten (arab. Khawarij: die Ausziehenden) berühmt. Im übrigen stammte der Mörder Alis aus ihren Reihen.

Alis Söhne Hassan und Hussain besetzten nach dem Tod des Vaters nicht das Kalifen-Amt. Doch während sich Alis älterer Sohn Hassan mit dem neuen Kalifen Mu‘awiya in Damaskus arrangierte, versuchte Hussain nach dem Tod Mu’awiyas 680 als Führer des Aufstandes gegen die Truppen des Kalifen-Sohnes Yazid, den Titel zu erkämpfen. Bei diesem Versuch wurde er getötet (3), was die endgültige Trennung der Schiiten von der übrigen islamischen Führung zur Folge hatte.

Entscheidend war also die Abfolge in der geraden dynastischen Linie, die zuerst durch Nachfolgestreitigkeiten unterbrochen und später ganz abgebrochen wurde.

In den folgenden Jahrhunderten entstanden weitere Gruppen im Islam und innerhalb der Schiiten. Dabei spielten unterschiedliche Auslegungen des Korans und der Details der Rechtsprechung ein Rolle und - als bedeutsamster Unterschied zwischen allen Gruppierungen – die unterschiedlichen religiösen und politischen Leitungsämter.

Für die Schiiten war Mohammad nicht nur verwandtschaftlich, sondern auch nach dem von Allah erteilten Auftrag eng mit Ali verbunden. Das islamische Glaubensbekenntnis, die Shahada ("Es gibt keine Gottheit außer Allah und Mohammad ist sein Gesandter") erweiterten die Schiiten um einen Zusatz, der Ali als seinen [Allahs] Freund bezeichnet. Diese Bezeichnung ist im Koran (Sure 4:125) nur Abraham gewährt.

Der Titel des Imam (arab. Amam = vor) bezeichnet für Sunniten den Vorbeter in der Moschee. Für die Schiiten hat dieser Titel eine zusätzliche Bedeutung. Sie verstehen den Imam als alleinigen, legitimen Führer des Islam, der aus der verwandtschaftlichen Linie Mohammads und den Nachkommen Alis und seiner Frau Fatima, der Tochter des Propheten, stammt. Er gilt als von Allah besonders zum Verständnis der Offenbarung (Koran) und Führerschaft berufen. Der Imam ist der Deuter religiöser und weltlicher Gesetze. Durch den Einfluß, den der Imam und seine Stellvertreter auf das Leben des Einzelnen und die Gestaltung der Gesellschaft ausüben, besitzen sie auch einen starken politischen Einfluß.

Die Zwölfer-Schiiten (Ithna ashariya oder Imamis [Imamiya])

Als größte Gruppe innerhalb der verschiedenen schiitischen Gemeinschaften gelten die so genannten Imamis oder auch Zwölfer-Schiiten. Sie stellen im Iran die Mehrheit (Staatsreligion), sind aber auch in Südasien, vor allem in Afghanistan, Indien und Pakistan, präsent.

Diese Gemeinschaft geht davon aus, daß Allah den zwölften Imam (um ca. 873 n. Chr.) in die "Verborgenheit" führte, um ihn vor dem Schicksal seiner Vorgängern zu bewahren. Seither lebe er im Verborgenen, bis er am Ende der Zeit als Imam-Mahdi zurückkehren werde, alle tyrannische Herrschaft zerschlagen und ein Reich der Gerechtigkeit etablieren werde. Bis dahin könne keine irdische Herrschaft volle Legitimität beanspruchen.

Wegen der scheinbar nie endenden Verfolgungen wanderten die meisten Schiiten aus den islamischen Stammländern in die "Randgebiete" aus. Das Gefühl einer ständigen Gefahr, des Leidens und der Mut zum Widerstand prägten die Schiiten nachhaltig. Das hatte auch Einfluß auf ihre Frömmigkeit, wie z.B. eine engere Bindung an Persönlichkeiten und eine ausgeprägte Heiligenverehrung, deren Gräber als Wallfahrtsorte zu religiösen Zentren expandierten. (Hier gibt es eine interessante Parallele zum sunnitisch-subkontinentalen Volksislam, bzw. den Brelwis.

Die ersten Schiiten kamen vermutlich kurz nach der Berührung des Islams mit dem Subkontinent - im achten Jahrhundert - in die Region. Doch auch hier blieb der Konflikt mit den Sunniten bestehen.

Als wichtigste Orte, in denen die Imamis durch ihre politische und kulturelle Bedeutung Einfluß bis in die heutige Zeit ausübten, gelten die gegenwärtig im nordindischen Unionsstaat Uttar Pradesh (U.P.) gelegenen Städte Lucknow und Jaunpur. Die beiden Orte wurden Zentren einer religiös-philosophischen Blüte, die sich in Wissenschaft, Kunst – insbesondere in architektonischer Hinsicht – in einer Form entwickelte die z.B. Jaunpur den Ruf einbrachte, als "Shiraz des Ostens" zu gelten. Lucknow, als heutige Landeshauptstadt von U.P., gilt nach wie vor als Ort in dem Urdu, die Sprache der Muslime Nordindiens und Staatssprache Pakistans, am reinsten gesprochen wird. Die einstige Majorität der schiitischen Bevölkerung in den beiden Orten hat sich allerdings, durch die Teilung des Subkontinentes bzw. der Staatsgründung Pakistans und der damit verbundenen Exodus eindeutig zu Gunsten einer sunnitischen Bevölkerungsmehrheit verschoben.

Des weiteren gab es einen gewissen Einfluß der Schi’a in den Dekkan-Staaten (Golkonda).

Die Siebener-Schiiten: Ismaililiten (Ismaelis)

Die Ismaililiten, auch als Siebener-Schiiten bezeichnet, bekennen sich zu Ismail, dem ältesten Sohn des sechsten Imam Jafar. Innerhalb der Schia sind sie eine Minderheit, die sich aus Musta`liiten, Drusen, Karmaten, Bohoras und Khojas zusammensetzen.

Den Zwölfer-Schiiten zufolge hat Imam Jafar einen jüngeren Sohn, Musa-al-Kasim, zu seinem Nachfolger bestimmt, da Ismail vor seinem Vater starb. Die Ismaelis hingegen glauben, dass Ismail in der Verborgenheit verschwunden sei und der erwartete Mahdi ist.

Im Jahr 909 (isl. Jahr 295) rief einer ihrer Führer, der behauptete von Ismail abzustammen, sich selbst zum Mahdi aus und gründete einen Staat in Nordafrika. Der General seines Sohnes fiel siegreich in Ägypten ein (969 n. Chr.) und errichtete ein Kalifat. Der Staat wurde, benannt nach der Tochter des Propheten, mehr als zwei Jahrhunderte als Reich der Fatimiden berühmt. In diese Zeit fällt auch die Gründung der bedeutendsten islamischen Universität, die Al-Azhar in Kairo.

Die fatimidische Linie spaltete sich nach dem Tod des Kalifen Mustasir 1094. Das ägyptische Volk schloß sich dessen Sohn Musta’li an und der rechtmäßige Thronerbe Nizar mußte flüchten.(4) Der Imam in der Abstammungslinie der Fatimidenkalifen "verschwand" ebenfalls.

Ein kulturelles Zentrum der Karmaten war in Südasien bereits im 11. Jahrhundert Multan. Die im pakistanischen Punjab gelegene Stadt wurde von Daud beherrscht. Unter dessen Herrschaft wurde die Stadt zwei Mal von Mahmud von Ghazni angegriffen und zahlreiche Ismailiten wurden, da sie sich der Zusage, sich dem orthodoxen Islam zuzuwenden verweigerten, von den Truppen des berüchtigten Eroberers getötet.

Heute sind neben ismaelischen Minderheiten im nordafrikanischen Raum und dem Mittleren Osten Ismaelis vor allem in Afghanistan, Indien und Pakistan anzutreffen. Ihre beiden Zweige in Südasien sind heute die Bohoras und die Khojas.

Die Bohoras, einst eine reiche Kaufmannskaste aus Gujarat, verehren den Mullahji als geistiges Oberhaupt. Sie sind eine erfolgreiche Splittergruppe innerhalb des indischen Islams und haben zahlreiche Denker hevorgebracht, so etwa A. A. A. Fyzee, dessen Werk über den Gesetzeskodex des fatimidischen Qadi Nu‘ man heute noch bindend ist. Er war es auch, der den Islam sehr modern auslegte. Zu den Bohoras zählte sich aber auch Badruddin Tayyabiji (der erste muslimische Präsident des indischen Nationalkongresses) und Atiya Begum, die "Seelenfreundin" von Muhammad Iqbal. Aus ihren Reihen entstammte übrigens auch der Staatsgründer Pakistans, der als Quaid-e-Azam verehrte Mohammad Ali Jinnah.

Die Khojas ("Aga Khan-Ismailiten")

Diese Gemeinschaft ist die einzige schiitische, die einem noch lebenden Imam die Treue schwört. Die Khojas, die auch als Nizaris bezeichnet werden, glauben, daß ihr gegenwärtiger Imam (der hazir imam), bekannt unter seinem persischen Titel als Aga Khan, der 49. Imam in der Abstammungslinie von Ali sei. 75% aller Khojas in leben Pakistan.

Die Anhänger Nizars hatten einige Jahrhunderte lang ihren Hauptsitz im Jemen, von wo aus sie vor allem nach Gujarat und in den Sindh ihre Missionare sandten. Sie verstanden es, durch eine esotherische Umformung gewisser hinduistischer Vorstellungen Anhänger unter der Bevölkerung im Sindh und Punjab zu finden (z.B. erscheint Ali als der erwartete zehnte avatar Vishnus). Ihre religiösen Gesänge (ginans), die u.a. in Sindhi, Punjabi, Gujarati u.a. Regionalsprachen verfasst wurden, nehemen die Bildersprache volkstümlicher mystischer Lieder auf und sind im Khojki-Alphabet geschrieben.

Nachdem die indischen Ismailis über Jahrzehnet hinweg ihre Abgaben zu ihrem Führer in den Iran schickten kam dieser 1839 nach Indien.

Einer ihrer Führer, Ahmad Riza Khan (1856-1921), versuchte durch Schulen eine Neubelebung des Glaubens herbeizuführen. Zudem soll durch eine karitative Arbeit Hilfe bei Armut gegeben werden. Die als egalitär bezeichnete Gemeinde zeichnet sich durch ihr indisches Herkunftselement aus, setzt sich aber zugleich für gesamtislamische Belange aktiv ein. Die Khojas nutzen beim Gebet und Koranlesungen teilweise Gujarati (Amtssprache des westlichen Unionsstaats). Angeführt durch den gegenwärtigen Aga Khan hat sich die gut organisierte Gemeinschaft zu einer modernen und erfolgreichen Gruppe entwickelt. Sie leben in Pakistans Bergen um Hunza (Northern Areas) und Chitral (North Western Frontier Province), aber auch im indischen Bombay.

Durch die ungünstige politische Situation wanderten Khojas nach Ostafrika aus. Neben Institutionen wie Schulen in Indien und Pakistan unterhalten ihre Anhänger auch Einrichtungen in Ostafrika, Großbritannien, Portugal und Nordamerika.

Von ihrem Anführer und der Gründerfamilie, deren Hauptquartier heute in Paris liegt, heißt es sie seien durch besondere Segenskraft begnadet.

Weitere schiitische Gemeinschaften

Zu den weiteren Gemeinschaften der schiitischen Richtung zählen die Drusen im Libanon, die Aleviten aus dem türkisch-syrischen Raum und die Zaidis, die heute im Jemen und am Kaspischen Meer leben. Sie sind im südasiatischen Kontext jedoch unbedeutend.

Es ist davon auszugehen, daß alle schiitischen Gruppen zusammen innerhalb des Islam ca. 10 Prozent ausmachen. Die sunnitische Mehrheit hat nicht nur wegen der Vielfältigkeit innerhalb der schiitischen Glaubensrichtung große Vorbehalte. Vor allem die schiitische Sonderlehre des Imamat, also der Anspruch auf eine feste Führerschaft, wird von den Sunniten grundsätzlich abgelehnt. Daher ist es vielen auch nicht möglich, sich im rituellen Gebet von einem schiitischen Vorbeter führen zu lassen. Das ist allerdings umgekehrt nicht der Fall: eine als taqiya (Verstellung, auch verbergen oder verheimlichen) bekannte Doktrin gestattet es dem Gläubigen seine Treue zum Imam geheimzuhalten, wenn dieser um seine Sicherheit fürchten muß.

Anmerkungen

(1) Arabisch Tauhid. Sure 112: "sprich: Er ist der eine Gott, Der ewige Gott; Er zeugt nicht und wird nicht gezeugt, Und keiner ist Ihm gleich."

(2) Das Kalifat entsprach keiner göttlich legitimierten Autorität, weshalb prinzipiell dieser Posten nur dem Rechtschaffendsten und Geeignetsten zukommen sollte.

(3) Noch heute gedenken die Schiiten am zehnten Tag des muslimischen Monats Muharram dem Todestag Hussains mit Prozessionen und "Passionsspielen". Das Grabmal Hussains in Kerbala (Irak) ist eine der bedeutsamsten schiitischen Pilgerstätten. Zahlreiche Dichter verfaßten – vor allem in Persisch und Urdu – rührende Klagelieder.

(4) Hasan-e Sabbah schützte Nizar und seinen Sohn in der Felsenburg Alamut im heutigen Iran. Der Ort spielt eine bedeutende Rolle für die Bewegung der Abassinen – der Haschischesser, die durch ihre politischen Selbstmorde und ihr Wirken bei den Kreuzzügen einen sagenumwobenen Ruf erhielten.

Quellen

  • Hermann Kulke und Ditmar Rothermund (1998): Geschichte Indiens: Von der Induskultur bis heute. München: Beck
  • Lutherisches Kirchenamt der vereinigten Evangelischen Lutherischen Kirche Deutschlands und Kirchenamt der evangelischen Kirche in D. (2001): Was jeder vom Islam wissen muß. 6. überarbeitete Auflage, Gütersloh
  • Malise Ruthven (1997): Islam. A very Short Introduction. Oxfort, New York
  • Annemarie Schimmel (1983): Der Islam im indischen Subkontinent. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
  • Annemarie Schimmel (1990): Die Religion des Islam. Eine Einführung. Stuttgart: Reclam

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