Inhalt

10. Mai 2004. Analysen: Wirtschaft & Soziales - Indien Spiel, Spaß ... und Kinderrechte

Im indischen Unionsstaat Uttaranchal arbeiten junge Briten und Inder Hand in Hand

Die Himalaya-Region Tehri ist hier zu Lande vor allem durch ein umstrittenes Staudammprojekt bekannt. Doch unweit der Großbaustelle engagieren sich Freiwillige aus England und Indien gemeinsam für die Kinderrechte.

Jeden Morgen steht Kamla um vier Uhr auf. Sie füttert die Büffel, holt Wasser vom nahen Brunnen, bereitet das Frühstück. Tagsüber arbeitet sie in der kleinen Landwirtschaft der Familie. Erst am späten Abend findet sie etwas Ruhe. Eine Schule hat sie nie besucht. Kamla ist 15 Jahre alt und ihr Schicksal typisch für tausende junger Frauen in den ländlichen Regionen Indiens.

Kamla lebt in Anjanisain, einem Dorf im Tehri-Distrikt des Unionsstaates Uttaranchal. Anjanisain liegt rund 300 Kilometer nordöstlich von Delhi und ist eingebettet in die fruchtbaren Ausläufer des Himalaya, mit ihren über 2000 Meter hohen Hügelketten und den weitläufigen Tälern.

Erst im November 2000 wurde das rund acht Millionen Menschen zählende Uttaranchal unabhängig. Zuvor gehörte der Bergstaat, der etwa so groß wie die Schweiz ist, zu Uttar Pradesh – dem bevölkerungsreichsten Unionsstaates Indiens. Es war vor allem die wirtschaftliche Vernachlässigung der Region, die bereits Ende der 60er Jahre zur Entstehung erster regionalistischer Bewegungen führte. 1996 griff die Zentralregierung in Delhi schließlich die Forderung der Uttaranchalis auf und leitete die Spaltung ein.

In Deutschland ist der Tehri-Distrikt vor allem durch ein umstrittenes Staudammprojekt bekannt. Mit Hilfe von Hermes-Bürgschaften beteiligt sich unter anderem Siemens an dem Kraftwerksbau. Der Tehri-Damm wird einen massiven Anstieg des Wasserspiegels verursachen, durch den mehr als 100 Dörfer in der Umgebung überflutet werden. Für eine Umsiedlung der Bevölkerung liegen noch immer keine konkreten Pläne vor. Hinzu kommt, dass bei einem Erdbeben, wie sie in der Region häufiger vorkommen, mit verheerenden Auswirkungen zu rechnen ist.

Trotz Unabhängigkeit ist Uttaranchal noch immer unterentwickelt. Dominierender Sektor ist die Landwirtschaft, die jedoch überwiegend auf den Eigenbedarf ausgerichtet ist. 70 Prozent der terrassenförmig in die Berghänge integrierten Felder sind kleiner als ein Hektar.

Nicht zuletzt auf Grund der wirtschaftlichen Rückständigkeit, vor allem aber wegen der relativ guten Erreichbarkeit durch die Nähe zu Delhi, ist Uttaranchal seit Jahren ein Dorado für Nichtregierungsorganisationen (NRO) aus aller Welt. Und auch Kamla hat schon Bekanntschaft mit "Entwicklungshelfern" aus aller Welt gemacht.

Dieser Tage leben und arbeiten 18 Freiwillige in Anjanisain – die eine Hälfte kommt aus Großbritannien, die andere aus Indien. Nachdem die Gruppe im Rahmen des World Youth Exchange Programme – einem Austauschprogramms für junge Entwicklungshelfer – bereits drei Monate lang in sozialen Einrichtungen im Süden Englands gearbeitet hat, ist sie nun für eine einheimische NRO tätig.

Ziel dieser NRO ist es, die Lebensbedingungen von Kindern und Jugendlichen in der Region Tehri zu verbessern. Um in diesem Bereich erfolgreich zu sein, hat sich die NRO dem Mountain Children Forum (MCF) – einer weltweiten Plattform für Kinder aus den Gebirgsregionen – angeschlossen. In anderen Regionen Indiens gibt es bereits ermutigende Beispiele für die gezielte Arbeit mit dem Nachwuchs. So haben sich in Teilen Rajasthans Kinderparlamente etabliert, in denen die Jugendlichen unter anderem mit dem politischen System und ihren Grundrechten vertraut gemacht werden sowie sich über ihre alltäglichen Probleme austauschen. In den Bergen beginnt sich dieser entwicklungspolitische Ansatz allmählich durchzusetzen.

In Vierergruppen besuchen die Freiwilligen die Dörfer rund um Anjanisain. Sie versuchen, mit den Kindern und Jugendlichen ins Gespräch zu kommen. Dabei stehen zunächst Spiel und Spaß im Vordergrund, denn die jungen Menschen sind schüchtern und zurückhaltend. Erst nachdem das Eis gebrochen ist, werden sie nach ihren Sorgen und Nöten befragt. Und von denen gibt es genug – die harte Arbeit der Mädchen, die mangelnde Perspektive für Jungen, eine Arbeit zu finden, der Alkoholismus vieler Väter, die Zerstörung der Umwelt.

"Die Kinder sind sich der Probleme durchaus bewusst", erzählt Himani Chandola. "Sie wissen auch, wie wichtig die Natur für ihr tägliches Überleben ist. Sie kennen die Bedeutung einer guten Schulbildung", so die 24-Jährige, die in Uttaranchals Hauptstadt Dehra Dun studiert hat. "Doch sie fühlen sich hilflos, wenn es darum geht, die Schwierigkeiten zu lösen."

"Wir wollen den Kindern ihr Potenzial vor Augen führen", ergänzt Justin Ward. "Und zu diesem Zweck motivieren wir sie, in eigens für sie zusammengestellten Gremien mitzuwirken. Dort können sie sich austauschen und ihre Probleme identifizieren." Die sei der erste und gleichzeitig wichtigste Aspekt, um Kindern ihre Möglichkeiten aufzuzeigen und schrittweise Veränderungen einzuleiten, findet der 24-jährige Schotte. "Nicht mehr, aber auch nicht weniger."

Kamla ist begeistert. "Früher habe ich mich oft ohnmächtig gefühlt. Aber allein durch die Gespräche mit gleichaltrigen Mädchen weiß ich, dass ich mit den Problemen nicht ganz allein bin." Nach drei Monaten werden die Freiwilligen Anjanisain wieder verlassen. Dann liegt es in der Hand einheimischer MCF-Helfer, aber auch an den Kindern selbst, die geschaffenen Gremien aufrecht zu erhalten und auszubauen. Himani und Justin sind zuversichtlich, dass es gelingt.

Übersetzung: Stefan Mentschel

Quelle: Der Text erschien am 4. Mai 2004 in der Tageszeitung "Neues Deutschland".

Kommentare

Als registriertes Mitglied können Sie einen Kommentar zu diesem Beitrag verfassen.