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07. August 2013. Interviews: Politik & Recht - Indien Internationale Solidarität gegen Sexismus und sexualisierte Gewalt

Ein Gespräch mit der indischen Feministin Urvashi Butalia

Zum internationalen Frauentag 2013 organisierte die Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) in Berlin eine Veranstaltung gegen Sexismus und sexualisierte Gewalt unter dem Titel #aufschrei. International war die Zusammensetzung der Sprecherinnen: neben der deutschen Bloggerin Merle Ströver und der britischen Bloggerin Laurie Penny war die indische Feministin Urvashi Butalia eingeladen, die Urmila Goel am folgenden Tag zu einem Interview traf.

Butalia hielt die Einführungsrede über die Reaktionen auf den international bekannt gewordenen Vergewaltigungsfall in Delhi im Dezember 2012. Eine junge Frau war in Begleitung eines Freundes in einen Bus eingestiegen und dort von mehreren Männern vergewaltigt worden. Diese Tat führte zu Massen-Protesten in Indien und internationaler Aufmerksamkeit. Die junge Frau starb wenige Tage später an ihren Verletzungen.

Butalia betonte in ihrer Rede, dass es in Indien eine lange Tradition von Protesten gegen Sexismus und sexualisierte Gewalt gebe. Die Proteste im Dezember waren daher nichts Besonderes an sich. Besonders war vielmehr, wer zu den Protesten kam: Frauen, Männer und Familien, aus der Stadt und vom Land, aus allen Klassen und Kasten. Für diese breite Unterstützung führte Butalia verschiedene Gründe an. Erstens, habe es kurz vorher eine starke Protestbewegung gegen Korruption gegeben, die zeigte, dass Protest etwas bringe. Zweitens hätte sich dieser Vergewaltigungsfall von anderen unterschieden, bei denen die Opfer als Sexarbeiterinnen, Frauen aus niedrigen Kasten oder Opfer von Soldaten wenig Mitgefühl bekämen. In diesem Fall hätte dem Opfer nicht vorgeworfen werden können, dass es sich nicht an die Normen gehalten habe und so für seine Vergewaltigung selbst verantwortlich sei. Drittens, habe die unterstützende und anhaltende Medienberichterstattung dazu geführt, dass auch andere Frauen sich zu Wort gemeldet hätten. Viertens, habe es viel internationale Aufmerksamkeit gegeben.

Zur Frage der internationalen Aufmerksamkeit sowie verschiedener Formen von Feminismus führte Urvashi Butalia am nächsten Tag mit Urmila Goel ein Gespräch:

Goel: Was halten Sie von den Reaktionen im Westen auf den Vergewaltigungsfall in Delhi?

Butalia: Das ist zwiespältig. Es war ein großer Fall für Medien in Indien und im Ausland, nicht nur in westlichen Medien. Internationale Medien tendieren dazu, über schreckliche Dinge in Indien zu berichten. Sie sehen Indien als ein Ort voll schrecklicher Gewalt und extremer Armut. Sie berichten kaum über Fortschritte und positive Dinge. Ich will damit aber nicht sagen, dass die internationale Medienaufmerksamkeit schlecht war. Die indische Regierung wurde so gezwungen zu reagieren. Sie wollte nicht, dass Indien als ein Land wahrgenommen wird, das gewalttätig zu seinen Frauen ist. Das hätte das Bild von Indien als aufstrebender Supermacht, als wirtschaftlich erfolgreich, die Erzählung des ‚Shining India‘ gestört. In mancher Hinsicht war die Medienaufmerksamkeit also hilfreich.

Aber sie ging mit einigen Problemen einher. Wir wurden gefragt: Warum passiert das in Indien? Warum ist Delhi die Vergewaltigungshauptstadt der Welt? Warum sind Menschen in Indien so gewalttätig untereinander? Warum werden Frauen so schlecht behandelt? Warum gibt es keine Reaktion in Indien? All das ist Blödsinn. Sie haben behauptet, es wäre das erste Mal, dass es solche Demonstrationen gegeben habe. Indien hat aber eine lange und gesunde Tradition des Protests. Es gab Proteste zu einem weiten Feld von Themen: zur Kernkraft, zu Staudämmen, zu Korruption – und die Frauenbewegung demonstriert und protestiert seit 30, 35 Jahren. Die Rechtsprechung zu Vergewaltigung wurde 1983 durch den Druck der Frauenbewegung geändert. Und der Druck geht bis heute weiter, um weitere Änderungen zu erkämpfen. Als die Vergewaltigung stattfand, war gerade ein Gesetzentwurf zum Thema im Parlament. Die Frauenbewegung war nicht still oder passiv.

Was mich geärgert hat, war nicht nur die Reaktion der Medien sondern auch die Reaktion von vielen westlichen Feministinnen. Auch die haben angenommen, es gäbe keine indische Frauenbewegung, sprangen auf und wollten helfen. Da war eine Gruppe von Feministinnen aus Harvard, die die indische Regierung und den von ihr eingesetzten Untersuchungsausschuss von Richter Verma helfen wollte. Wer sind die, dass sie in Indien helfen wollen? Maßen wir uns an und sagen, dass wir den amerikanischen Feministinnen helfen müssen, den ‚Equal Rights Ammendment‘ Ernst zu nehmen, oder ein Recht auf Abtreibung zu bekommen? Das machen wir nicht. Es ist die alte koloniale Einstellung: Das ist die Dritte Welt, da gibt es schreckliche Probleme, wir müssen hingehen und sie lösen. Sie haben das einfach reproduziert und nicht auf sich selbst geschaut. Wenn man sich Vergewaltigungsstatistiken ansieht, dann sind die viel höher in den USA als in Indien. Aber die amerikanischen Feministinnen haben nicht gesagt: Wir müssen uns Vergewaltigungen in den USA ansehen. Es ist viel einfacher, das Problem irgendwo da draußen zu verorten und die Hierarchie zwischen Erster und Dritter Welt zu reproduzieren.

Es war auch spannend, dass wir vom chinesischen Fernsehen angesprochen wurden. Die gestellten Fragen machten deutlich, dass es den chinesischen Medien um einen Wettbewerb zwischen Indien und China ging - um den Wettbewerb, in dem Indien bei Menschenrechten und Demokratie führt und China in der Wirtschaft. Es ging den chinesischen Medien nun darum zu beweisen, dass Indien beim Schutz von Menschenrechten, insbesondere von Frauen, nicht so erfolgreich ist. Sie haben sich nicht so sehr für den spezifischen Fall und das Vergewaltigungsopfer, das gestorben ist, interessiert. Sie wollten vielmehr China als überlegen darstellen. Die Sendungen waren so geplant, dass sie einen amerikanischen Experten hatten, eine indische Frau und noch jemanden. Die indische Frau wurde dazu gedrängt, zu sagen, dass die Dinge in Indien furchtbar sind. Es ist schwierig damit umzugehen.

Natürlich will man nicht in eine chauvinistische Position verfallen und patriotisch Indien verteidigen. Man muss zugeben, dass einige Dinge schrecklich sind. Aber es ist nicht alles schlecht, es braucht eine Balance.
Es war also eine seltsame Medienaufmerksamkeit, die Fragen aufgeworfen hat.

Goel: Wie sind Sie mit diesen verdeckten Interessen umgegangen?

Butalia: Wir haben darüber diskutiert und beschlossen, dass wir bestimmte Anfragen annehmen und andere nicht. Ausgehend von den Fragen, die wir bekommen haben, haben wir nach Bauchgefühl entschieden. Wir fanden es wichtig, unsere Perspektive darzustellen, und haben das Furchtbare der Tat, die Lücken im Gesetz und das staatliche Zögern, etwas für den Schutz von Frauen zu unternehmen, nicht verschwiegen. Gleichzeitig haben wir über die Bedeutung des Protests gesprochen. Als der Untersuchungsausschuss eingesetzt wurde und seine Empfehlungen wirklich gut waren, haben wir auch darüber geredet. Und wir haben darüber gesprochen, was die internationalen Medien gemacht haben und dass sie den Spiegel auf sich selbst richten sollten.

Goel: Welche Art der internationalen Solidarität wünschen Sie sich?

Butalia: Feminismus ist eine Bewegung, die sehr international ist, die von internationalen Netzwerken profitiert hat. Unabhängig von politischen, sozialen und Entwicklungsunterschieden gibt es Themen, die für uns alle gleich sind: Wir alle beschäftigen uns mit dem Patriarchat, mit Gewalt gegen Frauen und Frauen im Krieg. Dazu gab es viel internationale Solidarität und diese muss weitergehen – allerdings auf der Grundlage der Anerkennung von Unterschieden. Die Solidarität muss auf dem Verständnis gründen, dass unsere Feminismen sich aus den jeweiligen spezifischen Bedingungen der Länder, in denen wir aufgewachsen sind, entwickelt haben – ohne dabei nationalistisch zu sein. Dann kommt es auch nicht zu einem Wettbewerb zwischen besseren und schlechteren Feminismen.

Goel: Bei der Veranstaltung in der FES wurden Sie aufgefordert, etwas über Religion zu sagen, und haben das verweigert.

Butalia: Wir haben über Gewalt gesprochen. Ich sollte insbesondere über den Vergewaltigungsfall in Delhi und die Demonstrationen sprechen. Dann steht jemand aus dem Publikum auf und sagt: ‚Ich bin überrascht, dass Sie über Indien sprechen und nicht die Frage der Religion ansprechen.‘ Diese Erwartung kommt aus einer stereotypen Vorstellung von Indien als mystischem, exotischem Land, das religiös ist. Ja, Indien ist tief religiös, aber Religion ist eine private Angelegenheit für die Menschen. Wie in anderen Ländern auch wird Religion in Indien als politisches Instrument genutzt, um politisch zu mobilisieren, für Identitätskämpfe. Aber Religion und Indien können nicht gleichgesetzt werden, daher hat mich diese Annahme sehr geärgert. Ich habe über Gewalt gegen Frauen gesprochen und das hat nichts mit Religion zu tun. Warum sollte ich da über Religion sprechen? Nur weil ich aus Indien bin, soll ich über Religion sprechen?

Goel: Wurde dieser Vergewaltigungsfall von religiösen Bewegungen instrumentalisiert?

Butalia: Alle öffentlichen Angelegenheiten werden in der einen oder anderen Art instrumentalisiert. Die Hindu-Rechten haben den Fall genutzt, um der Congress-Regierung von Delhi vorzuwerfen, nicht genug für Frauen zu machen. Aber die Hindu-Rechte macht auch nichts für Frauen. Führer der Hindu-Rechten und Führer der Congress-Partei haben dumme Bemerkungen gemacht. Religion hatte damit nichts zu tun, außer wenn religiöse Gruppen auf den Zug aufspringen wollten und daraus politisches Kapital schlagen wollten. Aber sie wurden schnell niedergeschrien, da die Menschen nicht wollten, dass ihr Anliegen missbraucht wird.

Goel: Nochmal zur Veranstaltung in der FES zum Internationalen Frauentag: Wie fanden Sie das Konzept, dass Sie als Hauptrednerin mit einer jungen britischen und einer jungen deutschen Bloggerin diskutieren?

Butalia: Ich habe mich sehr gefreut, weil beide so interessante Arbeit in den sozialen Medien machen und es toll ist, über Kulturen hinweg zu sprechen. Beide waren sich ganz klar, dass Gewalt gegen Frauen kein Thema ist, dass woanders hin und zu jemand anderem gehört. Sie richten den Spiegel auf ihre eigenen Gesellschaften. Der Rahmen der Veranstaltung war durch den Bezug auf die deutsche Twitter-Kampagne #aufschrei gut gesetzt. Denn in dieser hatten Frauen in Deutschland sexuelle Belästigungen öffentlich thematisiert. Ich hätte mich unwohl gefühlt, wenn es geheißen hätte, erzähl uns was über Indien, weil wir helfen wollen. Aber darum ging es nicht. Es war klar: es geht um ein Problem, das uns alle angeht, das über nationale Grenzen hinaus reicht.

Goel: Es wird heute viel über den neuen Netzfeminismus gesprochen. Als eine alte Feministin, die schon seit langem kämpft, was denken Sie über die neuen Feministinnen?

Butalia: Es ist sicher eine wichtige Entwicklung. Viele aus unserer Generation waren verzweifelt, dass unsere Töchter nicht das gleiche Bewusstsein hatten wie wir. Jede Generation denkt das über die nächste. Das Internet hat den jüngeren Frauen eine Möglichkeit gegeben, sich zu vernetzen und zu diskutieren. Es ist nicht so, dass sie sich nicht engagieren wollten, aber die Themen ihrer Generation sind etwas anders. Das Internet hat ihnen die Möglichkeit gegeben, über Kulturen hinweg zu diskutieren, und daraus haben sich interessante Formen des Protests entwickelt. Die Proteste in Indien nach dem Vergewaltigungsfall in Delhi haben die Macht des Internets gezeigt. Aber in einem Land wie Indien ist das Internat nach wie vor ein Medium, das viele ausschließt. Viele haben keinen Zugang zum Internet. So muss man sich die Frage stellen, wie viele durch Aktivismus im Internet im Vergleich zum Aktivismus auf der Straße erreicht werden können. Es scheint allerdings jetzt, dass beide Formen verbunden werden, und das ist wichtig.

Goel: Noch eine andere Frage zum Feminismus: Bei der Veranstaltung in der FES wurde die Dichotomie zwischen Frauen und Männern immer wieder reproduziert. Sie waren die einzige Rednerin, die auch über Transgender gesprochen hat. Was halten Sie vom Fokus auf Frauen? Verändert sich die Kategorie Frau? Welche Rolle hat queeres Engagement?

Butalia: Das ist eine sehr komplizierte Sache und ich denke, wir haben noch nicht völlig verstanden, was passiert. Die ersten Herausforderungen für die Mainstream-Frauenbewegung gingen von sexuellen Minderheiten, lesbischen Frauen, von religiösen Minderheiten oder Frauen niedriger Kasten aus. Sie haben die Bewegung gefragt: ‚Wo sind wir repräsentiert?‘ ‚Wo sind unsere Themen?‘ Das waren sehr emotionale und schwierige Debatten, die die Frauenbewegung dazu gezwungen haben, auf sich selbst zu schauen und sich zu fragen, welche Machtpositionen reproduziert werden und wie inklusiv die Bewegung ist. Die nächsten Herausforderungen kamen von der queeren Bewegung, von Transgendern, und diese waren nicht so ‚einfach‘. Ich will die anderen nicht abwerten, aber die Politiken und Fragen des lesbischen Feminismus, des Minderheiten-Feminismus, des Feminismus der niedrigen Kasten waren sehr klar. Jetzt sind die Fragen nicht so klar.

Insbesondere Transgender wirft Fragen auf, über die wir bisher nicht nachgedacht haben und die wichtig sind: Wie wird Genderidentität definiert? Wo fängt sie an und wo endet sie? Ist sie fließend? Können Menschen sich zwischen Genderidentitäten bewegen? Warum sollten sie nicht? Wie inklusiv sollte die Frauenbewegung in Bezug auf eine Vielfalt von Identitäten sein? Wie definieren sich die Menschen, die diese Identitäten leben? Inwieweit sehen sie sich als Teil der Frauenbewegung oder nicht? Können sie sich aussuchen, mal mitzumachen und mal nicht? Verraten sie dann die Bewegung?

Goel: Vielen Dank für das Gespräch.

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