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14. Mai 2009. Kommentare: Indien - Politik & Recht Bilanz einer Zugreise anlässlich der indischen Wahlen

Wenige Tage vor Bekanntgabe der Wahlergebnisse fasst Mark Perrow, Redakteur an Bord des "BBC India Election Train", seine Einschätzungen am Ende der Reise zusammen.

Ein Bericht des India Election Train der BBC
Ein Bericht des India Election Train der BBC

Manche Reisen führen durch Landschaften und zu Ideen. Erster Zwischenstopp des "BBC India Election Train" war Ahmedabad in der Provinz Gujarat; der letzte vor unserer Ankunft in der Hauptstadt war Allahabad, gelegen im meist bevölkerten Staat Indiens, Uttar Pradesh.

In Ahmedabad sahen wir das Ashram, wo Mahatma Gandhi so viele Jahre lebte und arbeitete und von einem unabhängigen Indien träumte. In Allahabad besuchten wir das Haus von Jawaharlal Nehru, dem ersten Premierminister, der dieses junge Land maßgeblich mit formte. So standen diese beiden Ziele am Anfang und am Ende unserer Indienreise, zwei Giganten – das Alpha und Omega eines politischen Diskurses.

Doch trotz der immer noch großen Ehrerbietung für diese beiden Männer, was ist von ihrem Erbe heute noch übrig? Indien ist im Besitz von Atomwaffen, Städte breiten sich rasant aus, das Land ist Teil der globalen Wirtschaft. All das erscheint weit weg von Gandhis pazifistischer Vision indischer Dorfindustrien oder Nehrus nicht-vertraglichem Fabianischen Sozialismus. Die Zeiten ändern sich.

Vielleicht ist ihr wahres Erbe die Vielseitigkeit der Politik im neuen Indien. Bei dieser Wahl scheint die große Diskussion über die Richtung der Wirtschaftspolitik eher verhalten. Stattdessen wetteifern zunehmend dezentralisierte indische Staaten um Investitionen großer Unternehmen aus dem In- und Ausland. Darin scheinen sich Gujarat, Hochburg der hindunationalistischen BJP, und das kommunistisch orientierte Westbengalen plötzlich sehr einig.

Und statt des alten Dialogs zwischen Links- und Rechtsparteien (wenn das in Indien jemals Sinn gemacht hätte) gibt es heute hunderte verschiedener Debatten über lokale und regionale Themen, die sich je nach Staat unterscheiden – von Recht und Ordnung, über Grundstücksrechte und Entwicklung bis hin zu Sicherheit und der Rolle und Macht der unteren Kasten. Es ist eine politische Kakophonie, die bei diesen Wahlen eher eine Koalition verbündeter Parteien hervorbringen wird, als eine überwiegende Mehrheit.

Ergibt sich aus diesem wilden Puzzelspiel etwa ein zugrunde liegendes Bild? Nach fast drei Wochen Zugfahrt sieht man vor allem Schienen, Stellwerke und schmutzige Bahnschwellen im Schlaf vorbeihuschen. Man könnte es also auch durchaus so formulieren: In Indien gibt es einen schnellen und einen langsamen Zug. Man erkennt sofort, wer in welchem Zug sitzt - der erste ist eher städtisch, anglophon, global und digital geprägt, während der zweite gedrängt ist mit Indern vom Land, die weiterhin arm bleiben. Beide Züge, selbst der langsame, gewinnen an Tempo. Doch während der schnelle Zug davon rauscht, wird den Politikern aus allen Regionen und Bündnissen klar, welche Aufgabe die nächste indische Regierung erwartet: Die Lücke zwischen diesen beiden Indien muss geschlossen werden. Am Ende entscheidet bei diesen langen und heißen Wahlen, wie diese Aufgabe umgesetzt wird.

Doch zunächst gilt es eine weitere politische Kreuzung zu überqueren. Wer die Wähler einmal auf seiner Seite hat, für den beginnt ein anderer politischer Prozess: Parteien, die sich um eine funktionierende Mehrheit im Parlament bemühen, um eine neue Regierung bilden zu können. Das bedeutet Abkommen auf nationaler und staatlicher Ebene und vielleicht das ein oder andere Überraschungsbündnis. Sollten aber die indischen Wähler, die am Tag der Wahl an 800.000 Wahlbüros Schlange standen, den Eindruck bekommen, ihre Stimmen würden in irgendwelchen Deals verschleudert, könnte das ihren Glauben in die größte Demokratie der Welt ins Wanken bringen.

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