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29. April 2012. Kommentare: Politik & Recht - Indien Schluss mit Hunger

Grundrechte

50 Prozent aller Unterernährten der Welt leben in Indien. Aber diese Demokratie räumt ihren Bürgern Rechte ein – die Verfassung impliziert sogar ein Recht auf Nahrung. Deshalb haben zivilgesellschaftliche Organisationen eine Reihe von ­Prozessen im Namen der Armen gewonnen. Nun soll ein Gesetz zum Recht auf Nahrung verabschiedet werden. Bringt es das Ende von Hunger und Not in Indien?

Jeder Mensch hat das Recht auf Nahrung. Die Notwendigkeit zu essen ist das grundlegendste Bedürfnis überhaupt. Deswegen beinhalten die Verfassungen vieler Länder, die universelle Menschenrechtserklärung und der UN-Sozialpakt (Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, ICESCR) einen Absatz zum "Recht auf Nahrung". Indien ist eines der Länder, wo das Recht auf Ernährung implizit in der Verfassung steht – zumindest erlaubt die Wortwahl der Verfassung diese Interpretation (siehe unten).

Trotzdem lebt in Indien die weltweit größte Zahl von Unterernährten, mit mehr als 200 Millionen Menschen in einer unsicheren Ernährungslage – wie aus einem Bericht der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) von 2008 hervorgeht. Indien steht auf Rang 66 von 88 Ländern auf dem Welthungerindex, den das International Food Policy Research Institute in Washington, die deutsche Welthungerhilfe und Concern Worldwide jährlich ermitteln.

Die Hälfte aller indischen Kinder unter fünf Jahren ist unterernährt. Viele Inder leiden unter chronischer Unterernährung oder sogar unter extremem Hunger. Nach der Definition der FAO bedeutet "extremer Hunger", dass eine Person pro Tag weit weniger als die notwendigen 1800 Kilokalorien zu sich nimmt. Tag für Tag verhungern in Indien Menschen.

Mangelernährung – auch "versteckter Hunger" genannt – bezieht sich auf Mangel von Kalorien, Proteinen oder Nährstoffen. Mangel- und Unterernährung haben fast immer schwere physische und psychische Folgen. Mangelernährte Menschen sind außerdem anfälliger für Krankheiten; zum Beispiel ist das Wachstum der Kinder und die Entwicklung von Hirnzellen gestört.

Verschiedene indische Regierungen haben zu verschiedenen Zeiten mit unterschiedlichen Plänen und Methoden versucht, dem Hungerproblem Herr zu werden. Die neueste Initiative basiert auf dem verfassungsgemäßen Recht auf Ernährung: Der "National Food ­Security Act 2011", auch das "Recht-auf-Nahrung-­Gesetz" genannt, wird in Indien intensiv diskutiert. Es ist bereits vom Kabinett gebilligt, aber noch nicht vom Parlament abgesegnet worden.

Dieses Gesetz sorgt dafür, dass 75 Prozent der Landbevölkerung und die Hälfte der Stadtbewohner staatlich subventioniertes Essen bekommen. Der Gesetzesentwurf sieht vor, dass monatlich pro Person sieben Kilogramm Reis, Weizen und Getreide zu einem sehr niedrigen Preis an Prioritäts-Haushalte vergeben werden sollen. Die Regierung legt die Kriterien fest, nach denen entschieden wird, wer zu den Prioritäts-Haushalten zählt, ähnlich wie bei der Armutsgrenze (Below Poverty Line, BPL). Wenn der Gesetzesentwurf einmal angenommen ist, wird jeder Mensch, der zu einem Prioritäts-Haushalt gehört, das Recht auf subventionierte Nahrungsmittel haben. Diese soll er jeden Monat von der jeweiligen Landesregierung erhalten, verteilt durch das existierende Öffentliche Vertriebssystem (Public Distribution System, PDS), eine staatliche Kette von Läden, die es den Bedürftigen ermöglicht, verbilligte Grundnahrungsmittel zu kaufen. Darüber hinaus sieht es das Gesetz vor, jeder Person monatlich drei Kilogramm Getreide zu einem Preis, der bei höchstens 50 Prozent des Marktpreises liegt, zu verkaufen.

Das Gesetz sieht außerdem vor, dass Frauen, Kinder und andere Hunger leidende Gruppen wie Obdachlose oder Katastrophenopfer berechtigt sind, kostenlose oder sehr kostengünstige Mahlzeiten zu bekommen. Jede schwangere Frau oder stillende Mutter soll ein halbes Jahr lang gesetzliches Mutterschaftsgeld erhalten, in der Höhe von 15 Euro pro Monat. Damit würden 25 Millionen schwangere und stillende Frauen versorgt. Schätzungen zufolge wird das neue Gesetz die Nahrungsmittelsubventionen auf über 4 Milliarden Euro hochtreiben.

Viele politische Parteien haben auf die finanziellen Folgen für den indischen Staat hingewiesen. Der Ökonom und langjährige Indien-Experte Jean Drèze meint allerdings, dass dies kein ernsthaftes Problem darstelle und mit den bestehenden Ressourcen der Regierung gelöst werden könne. Unter dem Strich bedeutet dieses Gesetz: Schluss mit dem Hunger.

Die Koalitionsparteien der amtierenden Regierung werden das Gesetz unterstützen. Aber die größte Oppositionspartei, die konservative Bharatiya Janata Party (BJP), und andere wie die Kommunistische Partei (Communist Party of India–Marxist, CPI-M), haben auf Lücken in dem Gesetzesentwurf hingewiesen und zweifeln an der generellen Durchführbarkeit der Pläne.

Sicherung des Unterhalts

Die indische Regierung sowie soziale Aktivisten sehen in diesem Gesetz einen Meilenstein bezüglich Nahrungssicherheit. Die "Recht-auf-Nahrung"-Kampagnen in Indien kämpfen nicht nur für gerechte und nachhaltige Nahrungssicherungssysteme, sondern auch für das Recht auf Sicherung des Unterhaltes wie das Recht auf Arbeit, auf Landreformen und Sozialhilfe.

Sobald das Gesetz rechtswirksam ist, werden auch bestehende Sozialprogramme darin einbezogen. Dazu gehören das Arbeitsbeschaffungsprogramm Mahatma Gandhi National Rural Employment Guarantee Act (MGNREGA), das einem Erwachsenen jeder Landarbeiterfamilie pro Jahr hundert Arbeitstage zum gesetzlichen Mindestlohn garantiert, und andere Programme wie das kostenlose Schulmittagessen oder das PDS. Auch die Kriterien der Armutsgrenze werden unter die Lupe genommen werden.

Es ist zu erwarten, dass das Gesetz viele Vorteile mit sich bringt, wie zum Beispiel den Armen Zugang zu Nahrung zu verschaffen, die Kindersterblichkeit zu senken und das öffentliche Verteilungssystem zu verbessern.

Es gibt jedoch mehrere praktische und theoretische Aspekte, die den Erfolg dieses Gesetzes mindern könnten. Eine praktische Frage ist die Definition der priorisierten Gruppen. Es ist umstritten, wer genau unter der Armutsgrenze lebt. Nicht alle Landesregierungen Indiens haben dafür klare Kriterien. Die Zentralregierung nutzt Daten aus einer Umfrage von 2002. Es ist außerordentlich schwierig, nur mittels festgelegter Kriterien zu definieren, welche Personen­gruppen unter der Armutsgrenze leben.

Weitere potentielle Schwierigkeiten bestehen darin, die Wanderarbeiter und Adivasi (Indiens marginalisierte Stammesvölker) einzubeziehen. Da sie in entlegenen Gegenden leben, werden sie oft von staatlichen Hilfsprogrammen übergangen.

Wenn man die Statistiken betrachtet, wird deutlich, dass Indien mehr als genug Getreide produziert, um seine Einwohner zu versorgen. Im Haushaltsjahr 2010/11 produzierte Indien 181 Millionen Tonnen Getreide. Zur Umsetzung des neuen Gesetzes sind nur 63 Millionen Tonnen Getreide notwendig. Das heißt, das Problem liegt nicht in der fehl­enden Nahrungsmenge, sondern im System der Aufbewahrung und staatlichen Verteilung. Aber das bestehende PDS ist aber auf keinen Fall den neuen Herausforderungen gewachsen.

Die Erfahrung von MGNREGA lehrt zudem, dass viele junge Leute ihr Geld für Mobiltelefone oder Alkohol ausgeben, aber nicht für Grundbedürfnisse. Es ist zu befürchten, dass viele Männer ihr subventioniertes Getreide weiterverkaufen, um sich Schnaps leisten zu können, und ihre Familien weiter Not leiden. Im Staat Westbengalen haben wir zudem erlebt, dass MGNREGA nicht korrekt verwaltet wird und Menschen Geld ausbezahlt wird, obwohl sie kaum gearbeitet haben. Das kann die Arbeitsmoral in der Landwirtschaft, dem wichtigsten Wirtschaftszweig Indiens, unterhöhlen.

Es gibt auch einige theoretische Fragen: Was bedeutet es für die moralische und psychologische Grundhaltung, wenn Menschen mit subventioniertem Essen aufwachsen? Ist es vertretbar, mehr als die Hälfte der Bevölkerung mit staat­lichen Mitteln zu ernähren? Widerspricht dies nicht dem grundlegenden Entwicklungsprinzip, der Hilfe zur Selbsthilfe? Kann in Würde leben, wer subventionierte Nahrung annimmt? Diese Fragen mögen unsensibel klingen, sind aber wichtig.

Hunger zu vermeiden ist sicherlich eine Priorität. Es ist bitter, dass Indien zwar eine der am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften der Welt hat, aber die Hälfte seiner Bewohner unterernährt sind. Damit das Gesetz greift, sind ausreichende Getreidevorräte nötig. Das Land braucht ein effizientes und transparentes öffentliches Vertriebssystem und eine Verwaltung, die Rechenschaft ablegt. Nötig sind zudem Verfahren, um Landbewohner über ihre Rechte zu informieren – und darüber, wie sie unbürokratisch Hilfe bekommen.

Bei der Implementierung der Regierungspolitik können Institutionen wie die gewählten Dorfräte ("Panchayats"), aber auch Nichtregierungsorganisationen und traditionelle Sozialstrukturen etwa der Adivasis eine Rolle spielen. Die Zentralregierung kann das neue Gesetz alleine nicht implementieren. Zudem muss die Regierung auch ein Wirtschaftsprogramm für junge Leute auflegen. Sie brauchen Ausbildung, finanzielle Unterstützung und Hilfe, um eigene Kleinunternehmen auf die Beine zu stellen. So wird nachhaltige Kaufkraft geschaffen. Es mag langwierig und mühsam sein, sowohl für Nahrung als auch für Arbeit zu sorgen – es ist aber der beste Weg zu langfristiger Ernährungssicherheit

 

Die Recht-auf-Nahrung-Kampagne

 

Der Gesetzentwurf zum Recht auf Nahrung in Indien hat eine lange Vorgeschichte. Während einer Zeit der Dürre im Jahre 2001 reichte eine zivilgesellschaftliche Organisation im nordwestlichen Bundesstaat Rajasthan eine Klage beim Obersten Gerichtshof Indiens ein, mit der Forderung, dass die staatlichen Getreidevorräte an Bedürftige ausgegeben werden sollten. Schließlich entschied der Oberste Gerichtshof, dass in der Tat die staatlichen Ernährungsprogramme ein Recht und eine Garantie für alle indischen Staatsbürger darstellten und somit die Verantwortung bei der Zentral- sowie den Landesregierungen läge.

Die gerichtliche Auseinandersetzung bezüglich dieser Anzeige im öffentlichen Interesse dauert an; in der Zwischenzeit hat der Oberste Gerichtshof mehrere Anweisungen gegeben, die die Armen begüns­tigen. Eine Konsequenz daraus war, dass die Regierung den Gesetzesentwurf zum Recht auf Nahrung erstellte. Im Dezember 2011 wurde der Entwurf vom Kabinett bestätigt, und es wird erwartet, dass das Gesetz bald vom Parlament erlassen wird.

Allerdings wird sich das Recht-auf-Nahrung-Gesetz bei seiner Umsetzung auf das Public Distribution System (PDS) stützen müssen. Das PDS besteht im Prinzip aus einer staat­lichen Kette von Läden, die es den Bedürftigen ermöglicht, verbilligte Grundnahrungsmittel zu kaufen. Dies ist Indiens bestehendes Netzwerk zur Nahrungssicherung, durch welches subventionierte Nahrung und anderer Grundbedarf wie Weizen, Reis, Zucker, aber auch Kerosin, unter den Armen verteilt wird. Es wird von dem Ministerium für Verbraucher, Nahrung und öffentliche Verteilung geführt und zusammen mit den Landesregierungen koordiniert.

Allerdings sind die Nahrungsmittel dieses Systems nicht ausreichend, um die Armen zu ernähren, und auch oft von geringer Qualität. Das PDS wird wegen seines Fokus auf die Städte kritisiert und weil den Armen nicht effektiv geholfen wird. Unzureichende Überwachung und fehlende Nachweise haben zu einer großen Zahl von Mittelsmännern geführt, die einen Großteil der Vorräte aufbrauchen, welche eigentlich für die Armen gedacht waren. Hinzu kommt, dass es nicht klar ist, welche Familien sich überhaupt unter der Armutsgrenze befinden. (my)

 


Quelle: Der Beitrag erschien im Orginal im März 2012 in E + Z Entwicklung und Zusammenarbeit Nr. 03-2012, 53. Jahrgang, Seite 117-119.

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