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04. Dezember 2004. Indien Jharkhand

Indiens jüngster Unionsstaat und Adivasi-Land

Land und Leute

Am östlichen Rand Zentralindiens gelegen erstreckt sich Jharkhand über eine Fläche von 74.677 qkm, was in etwa dem Areal Tschechiens entspricht. Die westöstliche Achse reicht über eine Länge von ca. 460 km während die nordsüdliche Ausdehnung fast 380 km misst. Im Norden grenzt dieser jüngste der 28 indischen Unionsstaaten an Bihar, von dem er am 15. November 2000 abgespalten wurde (siehe unten). Im Osten grenzen Westbengalen, im Süden Orissa und im Westen Chhattisgarh und Uttar Pradesh an Jharkhand. Während der Fluss Son im Nordwesten die Distrikte Garwa und Palamu umgrenzt, bildet der Ganges an der nordöstlichen Flanke – im Distrikt Sahibganj – die natürliche Scheidelinie.

Karte von Jharkhand
Karte von Jharkhand. Foto: Eric Töpfer

Jharkhand – was soviel wie "Waldland" bedeutet – setzt sich aus den Regionen Palamu (im Westen), Santhal Pargana (dem geografisch nordöstlichen Flügel) und dem ca. 540 Millionen Jahre alten Hochland Chotanagpur zusammen. Dieser Sammelbegriff für die Plateaus von Ranchi, Hazaribagh und Kodarma umfasst über 85 Prozent des Territoriums. Es ist mit seinen ca. 65.500 qkm eine der mineralienreichsten Regionen Indiens. Die größte der Hochebenen, die von Ranchi, liegt auf einer durchschnittlichen Höhe von 700 Metern. Das gesamte Plateau ist von zahlreichen Flüssen durchzogen. Durch die Erosion gibt es einzelne Berge und isolierte Bergketten. Der verloren wirkende 1.365 Meter hohe Berg Parasnath – der eine bedeutende religiöse Rolle im Jainismus besitzt – ist der höchstgelegene Punkt.

Zum Zeitpunkt der letzten Volkszählung im Jahr 2001 hatte Jharkhand 22 Distrikte sehr unterschiedlicher Größe und Bevölkerungszahl. Während im Distrikt Ranchi mit seinen über 2,7 Millionen Einwohnern über 10 Prozent der Gesamtbevölkerung gezählt wurden, leben im westlich Nachbardistrikt Lohardaga etwas mehr als 360.000 Einwohner. Die Distriktstadt Ranchi ist zudem Sitz der Regierung und Landeshauptstadt des knapp über 27 Millionen Einwohner zählenden Unionsstaates. Damit belegt er der Bevölkerungsgröße zufolge national den dreizehnten Platz. Von 1991 bis 2001 wuchs die Einwohnerzahl um 23 Prozent. Die durchschnittliche Bevölkerungsdichte beträgt 338 Menschen je qkm.

Jharkhand - Distrikte
Distrikte (2001): 1 Sahibganj, 2 Godda, 3 Pakur, 4 Dumka, 5 Deoghar, 6 Jamtara, 7 Dhanbad, 8 Giridih, 9 Kodarma, 10 Hazaribagh, 11 Bokaro, 12 Ranchi, 13 Saraikela-Kharsawan, 14 Ost Singhbhum, 15 West Singhbhum, 16 Simdega, 17 Gumla, 18 Lohardaga, 19 Latehar, 20 Chatra, 21 Palamu, 22 Garwa. Foto: Christoph S. Sprung

Die über 32.000 Dörfer und wenigen Städte konzentrieren sich zumeist auf die Flusstäler oder liegen in den unbewaldeten Ebenen und dem mineralreichen und industrialisierten Gürtel des Damodar-Tals. Weniger als fünf Prozent der Gesamtfläche sind als städtische Gebiete ausgewiesen. Wenngleich es bisher noch keine Stadt mit über einer Millionen Einwohner gibt, liegen die Einwohnerzahlen von Ranchi (schätzungsweise 897.000 Einw. im Jahr 2004), Jamshedpur (604.000) und Bokaro (418.000), Dhanbad (211.000) und Hazaribagh (135.000) weit über Hunderttausend. Im Großraum Jamshedpur leben schätzungsweise 1,2 Millionen Menschen.

Hindus sind vor den Muslimen (18 Prozent – überwiegend Sunniten) und Christen die größte Religionsgruppe. Angaben über eine genauere Zusammensetzung der Bevölkerungsgruppen sind politisch äußerst brisant. Offizielle Zahlen sind daher mit Vorsicht zu genießen. Der Anteil der ehemals als Unberührbare bezeichneten Bevölkerungsgruppe, den Dalits (die "Zerbrochenen"), die von der Regierung als Scheduled Castes eingestuft werden, liegt bei 15-20 Prozent.

Mit ca. 27 Prozent gehört mindestens ein Viertel der Einwohner zur als Adivasi bezeichneten indigenen Bevölkerung, die in über 30 vom Staat als Scheduled Tribes anerkannte Ethnien unterteilt ist (Mullick 2003). Sie leben vor allem in den Distrikten Ranchi, (Ost- und West-) Singhbhum, und Dumka (Santhal Pargana). Die Santhal und Oraon sind die zahlenmäßig größten "Stämme". Es heißt, die Munda seien die erste Gruppe gewesen, die die Region besiedelte (siehe unten). Zusammen mit den Ho machen diese Ethnien vier Fünftel der Adivasi-Bevölkerung Jharkhands aus. Im Gegensatz zu früheren Zeiten leben sie allerdings kaum noch im Wald und von seinen Produkten.

Die Mehrheit der außerhalb der hinduistischen Kastenhierarchie stehenden Adivasi versteht sich als Hindus. Einige wenige sind Christen. Es gibt Adivasi, die animistische Riten praktizieren. Dennoch folgen nur die Stammesmitglieder der Ho mehrheitlich einem animistischen Glauben. Die Kharia sind der einzige Stamm, der überwiegend christlich geprägt ist. Allerdings ist unter den Mundas und Oraons das Christentum ebenfalls verbreitet.

Bei einem Geschlechterverhältnis von 941 Frauen je 1.000 Männer liegt Jharkhand knapp über dem erschreckend niedrigen nationalen Durchschnitt von 933 Frauen.

Analphabetismus ist weit verbreitet. Die Alphabetisierungsrate von 54 Prozent – bei Frauen unter 40 Prozent (!) – ist nach der des Bruderstaates Bihar die zweitniedrigste aller indischen Unionsstaaten, wo im Mittel 65 Prozent Lesen und Schreiben können.

Hindi ist die offizielle Landessprache. Jharkhand liegt am Ostrand des so genannten Hindi-Sprachgürtels. Weiterhin verwendete Mundarten sind Santhali, Mundari, und Ho mit australisch-asiatischem Ursprung, während Oraon dravidische Wurzeln hat. Durch die Immigration aus dem Nachbarstaat wird mancherorts auch Bengali gesprochen.

Trotz der seit Jahrhunderten stark betriebenen Landwirtschaft ist bis zu einem Viertel der ursprünglichen Vegetation erhalten geblieben. Insgesamt ist weniger als die Hälfte der Böden kultiviert. Die nur noch zehn Prozent bewaldeten Gebietes bestehen größtenteils aus tropischen Laubwäldern (Zum Vergleich: 1949 waren es noch 63 Prozent). Einige wenige Gebiete im äußersten Nordosten des Staates sind von immergrünen Tropenpflanzen bewachsen.

Die wichtigsten Flüsse sind neben Son und Ganges der Damodar, der North Koel, der South Koel und der durch Ranchi und Jamshedpur fließende Subarnarekha.

Während die durchschnittliche Sommertemperatur (im Juli) selten 35° C überschreitet sinkt die Temperatur im Winter (Januar) kaum unter 15-20°C. Vor allem der Südwest-Monsun liefert den für die Landwirtschaft benötigten Regen. Der nordöstliche Monsun im Spätherbst spielt keine Rolle. Die durchschnittliche Niederschlagsmenge liegt bei 100-200 cm pro Jahr.

Wirtschaft und Infrastruktur

Das immer noch stark feudal geprägte Jharkhand ist einer der ärmsten Staaten Indiens. Das jährliche durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen, das 2001 etwa 4.200 Rupien (etwa 72 Euro) betrug, liegt weit unter dem nationalen Einkommensdurchschnitt von ca. 20.000 Rupien. Ein ungelernter Arbeiter erhält für einen zehnstündigen Arbeitstag ca. 60 Rupien (etwa 1 Euro). Aus großer Not arbeiten entgegen traditioneller Vorstellungen auch oftmals Frauen, die weit weniger verdienen als Männer.

So sorgen mehr als zwei Drittel der über 15jährigen für einen Beitrag zum Einkommen ihrer Familien (Balakrishnan 2004:21). 74 Prozent der Adivasi-Bevölkerung lebt unter der international gesetzten Armutsgrenze mit einem Einkommen von weniger als einem US-Dollar pro Tag (Icke-Schwalbe 2003). Die weit verbreitete Armut ist offensichtlich der Hintergrund für die anhaltend starke Migration in andere, wirtschaftlich besser gestellte Unionsstaaten.

Das Entwicklungsniveau sämtlicher Distrikte liegt weit unter dem indischen Durchschnitt.[1] Das spiegelt sich in der sehr schlechten Infrastruktur wieder. So verfügen beispielsweise weniger als ein Viertel aller Dörfer über Elektrizität. Trinkwasser ist ein sehr knappes Gut. Auch in den elektrifizierten Gegenden sind täglich mehrstündige Stromausfälle gewöhnlich.

Der größte Teil der Bevölkerung lebt von der Landwirtschaft. Diese wird oftmals mit den einfachsten Mitteln betrieben. Die am häufigsten angebauten Getreidesorten sind Reis, Mais, Ragi (eine Hirsesorte), Kichererbsen und verschiedene Gemüse. Zur hauptsächlichen Weiterverarbeitung landwirtschaftlicher Erzeugnisse gehört die Rohrzuckerraffinerie, Seidenproduktion und Tabak- und Juteverarbeitung. In den traditionellen Kleinbetrieben werden Glasarbeiten und Handarbeiten wie Ton-, Bronze- und Kunstwerke hergestellt.

Trotz der niedrigen Löhne, hoher Arbeitslosigkeit und der weit verbreiteten Armut ist insbesondere die Chotanagpur-Region mit ihrer landesweit höchsten Konzentration an Mineralien industriell äußerst bedeutsam. Der Großteil der indischen Kohlevorkommen liegt in Jharkhand.[2] Der Abbau wird von der staatlichen Damodar Valley Corporation von Hazaribagh aus verwaltet. Die Distriktstadt Dhanbad ist das logistische Zentrum des Kohlebergbaus der Region.

Die Glimmervorkommen in den Distrikten Kodarma, Hazaribagh und Giridih gelten weltweit als Hauptbezugsquelle dieses Minerals. Über den hohen Qualitätsstandart hinaus gibt es hier eine große Auswahl an verschiedenen Arten von Glimmer. Die Distriktstadt Giridih gilt seit Jahrzehnten unangefochten als Zentrum für die Verarbeitung und den Export des Minerals in alle Welt. Weitere häufige Mineralien, die nahezu ausschließlich in Jharkhand abgebaut werden, sind Kupfer, Kalkstein, Bauxit, Eisenerz und Asbest.

Das Ende der 1960er Jahren mit sowjetischer Hilfe errichtete Stahlwalzwerk in Bokaro ist das landesweit größte seiner Art. Dort befindet sich auch das bedeutendste Elektrizitätskraftwerk.

In der Industrie- und Eisenstadt Jamshedpur im Distrikt Ost-Singhbhum befindet sich das zweitgrößte Stahlwerk Indiens. Es wird privat von der Tata Iron and Steel Company (TISCO) geführt. Aufgrund der engen Verbindung mit der Industrie-Familie Tata wird Jamshedpur auch oftmals als Tatanagar bezeichnet.[3] Ranchi ist durch die dort ansässige Maschinenbau-Industrie, insbesondere durch die 1958 gegründete staatliche Heavy Engineering Corporation, ebenfalls ein wichtiger Industriestandort.

Zur Stromerzeugung und Wasserspeicherung wurden bereits 1948 der Damodar und einige seiner Nebenflüsse aufgestaut. Das Damodar-Projekt mit seinen Staudämmen bei Tilaiya, Konar, Maithon und den Panchet Hills wurde auch zur Entwicklung der Nachbarstaaten Westbengalen und Bihar ins Leben gerufen.

Neben zahlreichen Zugstrecken der Nordöstlichen Eisenbahngesellschaft (North-Eastern Railways) führt auch die Hauptstrecke von Delhi über Patna nach Kolkata durch Jharkhand. Das relativ dichte Einsenbahnliniennetz entstand in Hinblick auf den Abtransport der Rohstoffe. So haben lediglich drei Distrikte keinen Bahnhof.

Das über 13.000 km lange Straßennetz (Landstraßen 7.678 km) ist aufgrund mehrerer wirtschaftlich bedeutender Standorte recht kompakt, jedoch überwiegend in einem schlechten Zustand. Die über 4.600 km langen staatlichen und ca. 1.000 km nationalen "Highways" bilden da nur abschnittsweise eine Ausnahme, so z.B. die Delhi mit Kolkata verbindende Grand Trunk Road. Nur ein Drittel aller Dörfer ist an das Straßennetz angeschlossen.

Der Birsa Munda Airport von Ranchi und der Sonari Aerodrome von Jamshedpur sind die beiden einzigen Flughäfen. Die Landeshauptstadt wird wöchentlich mehrmals von Delhi, Kolkata und Patna angeflogen.

Geschichte und Politik bis 1947

Als erste Siedler Chotanagpurs gelten die Mundas. Aufgrund ihrer australisch-asiatischen Sprache wird vermutet, dass sie ursprünglich aus Südostasien stammen (Thapar / Siddiqi 2003 [1979]). Allerdings wanderten sie Legenden zufolge aus nordwestlicher Richtung her in die Region ein (Balakrishnan 2004:3). Letztlich gelten aber die Adivasi insgesamt als indigene Bevölkerung der Region.

Das 10. bis 12. Jahrhundert war geprägt von technischer Innovation, die es vor allem ermöglichte, neues Land zu kultivieren. Daraufhin wanderten in den folgenden Jahrhunderten vor allem entlang der Flusstäler Nicht-Adivasis aus dem heutigen Bihar und Uttar Pradesh ein. Auf ihrer Suche nach fruchtbarem Agrarland bevölkerten sie das auch als Bhagelkhand bezeichnete Gebiet im nordwestlichen Jharkhands (Thapar / Siddiqi 2003 [1979]).

Im frühen 17. Jahrhundert wurde der Moghul-Kaiser Jahangir, angelockt durch den Reichtum der Diamantenfelder von Khokhara, auf das Gebiet aufmerksam. Durch die Entsendung seines Militärführers Ibrahim Khan nach Chotanagpur kam die Region nach 1616 zwar unter den Einfluss des Moghul-Reichs, das den Lokalfürsten Durjan Sal tributpflichtig machte. Dennoch blieb Chotanagpur in den nächsten zweihundert Jahren relativ autonom (Thapar / Siddiqi 2003:43 [1979]).

Das änderte sich jedoch nach 1765 grundlegend, als Chotanagpur und Teile von Santhal Pargana als Teilregion Bihars durch die von Bengalen aus operierende East India Company unter britische Oberhoheit gerieten. Ab 1780 wurde der Distrikt Ramgarh Hill Tract gegründet. Dieser setzte sich aus den heutigen zentralen und nördlichen Distrikten sowie einigen Teilen des Gaya Distrikt in Bihar zusammen.

Durch die Errichtung des britischen Verwaltungssystems mit seinen drastischen Unterschieden gegenüber den lokalen Sitten wurden vor allem Migranten aus dem heutigen Bihar und Bengalen in die Region gelockt. Da sie bereits mit der Kolonialherrschaft der Europäer vertraut waren, drängten die Immigranten in den lukrativen Verwaltungsapparat. Im weiteren Verlauf wurden die Distrikte Ramgarh und Santhal Pargana (im Kern aus dem heutigen Dumka bestehend) gegründet. Seit dem späten 18. Jahrhundert begehrten die verschiedenen Adivasi-Völker im von den Briten mittlerweile als South West Frontier Agency verwalteten Chotanagpur gegen die Kolonialherren auf. Im 19. Jahrhundert kam es häufiger zu Revolten, die von den Europäern und ihren Helfern meist äußerst brutal niedergeschlagen wurden. Hintergrund der Aufstände war die Unzufriedenheit über die Gebietsneugliederungen und den Zustrom von auswärtigen Arbeitern. Im Ergebnis wurde seit der zweiten Hälfte der 19. Jahrhundert die indigene Bevölkerung zusehends marginalisiert (Bandyopadhyay 2004, Thapar / Siddiqi 2003 [1979]). Zudem wurden viele Adivasi in niedere Arbeiten in anderen Provinzen Britisch-Indiens gezwungen. Im Zusammenhang mit der Arbeit von Adivasi, die meist als "Coolies" (Träger oder ungelernte Arbeiter) in den Teegärten Assams schufteten, wird meist der Begriff "forced labour" verwendet (Thapar und Siddiqi 2003:63 [1979]).

Der weitere Geschichtsverlauf ist geprägt von einer nicht enden wollenden Zuwanderung. Vor allem der Bergbau und der damit zusammenhängende Ausbau der Eisenbahn und anderer Infrastrukturen zum Ende des 19. Jahrhunderts bewirkten diesen Zuzug von Nicht-Adivasi. Die Ursprungsbevölkerung wurde dabei mehr oder weniger systematisch ihres Grundbesitzes beraubt, der ihrer Auffassung zufolge ein kollektives Gut darstellte, was unvereinbar war mit dem kapitalistischen Prinzip individuellen Privateigentums.

Erste Bestrebungen nach Eigenständigkeit der Chotanagpur-Region kamen im Zusammenhang mit der Zuwanderung aus den benachbarten Provinzen auf, durch die die einheimische Bevölkerung schnell wirtschaftlich und politisch dominiert wurde (vgl. Bandyopadhyay 2004). Der Zuzug von Biharis, Bengalen und Menschen aus anderen Regionen Indiens wird in der lokalen Geschichtsschreibung als "Swadeshi Colonialism" (interne Kolonialisierung) bezeichnet (Balakrishnan 2004, Singh 2004). Allerdings hatten die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen in Chotanagpur über Jahrhunderte hinweg friedlich als Nachbarn zusammen gelebt und teilten oftmals ähnliche Werte und soziale Praktiken miteinander. Die Identitätsbildung und die Schärfung sozialer und ethnischer Grenzen wurde insbesondere durch den kolonialen Zensus mit seiner akribischen "Ordnungs- und Einteilungswut" vorangetrieben.

Die christliche Missionsarbeit seit Mitte des 19. Jahrhunderts zielte vor allem auf die als ungläubig dargestellten Adivasi ab (die deutsche Gossner-Mission ist beispielsweise seit 1845 aktiv in Chotanagpur). Den christlichen Kirchen gelang es, in den vergangenen 160 Jahren über weite Gebiete hinweg Bildungseinrichtungen zu schaffen. Durch das sich ausbreitende Christentum (vgl. Thapar / Siddiqi 2003 [1979]) und die pseudo-ethnologische Begrifflichkeit im Kolonialzeitalter, die einen primär rassistischen Hintergrund hatte (Vgl. Sengupta 2003 [1988]), bildete sich parallel eine stark emanzipatorische Adivasi-Identität heraus. Die verschiedenen Adivasi-Völker begannen sich zum Ende des 19. Jahrhunderts, deutlicher als zuvor von den später in die Gebiete immigrierten Kasten-Indern abzugrenzen. Zur Unterscheidung verwenden sie zumeist den Begriff "Diku" (Eindringling).

Die Abgrenzungstendenzen manifestierten sich bald auch politisch. Während sich zunächst die lokalen Organisationen, Parteien und Zusammenschlüsse kaum von Interessensvertretungen in benachbarten Provinzen unterschieden, änderte sich dies, als deutlich wurde, dass die anderen Gruppen kein Interesse an einer Vermischung oder Assimilierung mit den Adivasi hatten. Dadurch veranlasst, änderte beispielsweise die zunächst regionalistische Chotanagpur Unnati Samaj 1936 ihren Namen in Adivasi Mahasabha (Große Versammlung der Adivasi) und bezog sich damit klar auf ethnische Identitäten (Sengupta 2003:337 [1988]).

Die enttäuschenden Erfahrungen mit der brutalen Niederwerfungen der Aufstände im 19. Jahrhundert und das Vorbild Orissa, das sich im Jahr 1936 von Bihar losgesagt hatte, ermutigte viele Akteure, den parlamentarischen Weg zur Verwirklichung eines separaten Staates einzuschlagen. Während des Weltkrieges war die Adivasi Mahasabha gegenüber der Kolonialadministration loyal und spielte eine maßgebliche Rolle bei der Rekrutierung von Soldaten (Balakrishnan 2004).

Geschichte und Politik seit 1947

Nach dem Zweiten Weltkrieg und der Unabhängigkeit Indiens ging 1950 aus der Adivasi Mahasabha die Jharkhand Party hervor. Da die Adivasi-Völker dem Zensus von 1951 zufolge bereits keine Mehrheit mehr in Chotanagpur bildeten, war diese Parteigründung auch ein Versuch, Nicht-Adivasi für das eine große politische Ziel zu gewinnen: Jharkhand alag prant – ein separater (Unions-)Staat Jharkhand.

Mit dieser Forderung trat die Partei 1952 bei den ersten Wahlen im freien Indien an und spielte in den darauf folgenden Jahrzehnten eine wichtige Rolle. Die regierende Kongresspartei tat ihrerseits alles, um einer Loslösung der Region vom Staat Bihar entgegenzutreten. Schließlich profitierte besonders der Norden Bihars – wo sie ihre Wählerhochburg hatte – von dem rohstoffreichen Süden und seinen überproportionalen Steuereinnahmen.

Die Bewegung zur Schaffung Jharkhands erlebte viele Höhen und Tiefen. Ihr erster Führer Jaipal Singh, ein Munda, wurde von Nehrus Kongresspartei mit einem Ministerposten ruhig gestellt und nahezu die gesamt Führungsriege korrumpiert (Hörig 2000). Jawaharlal Nehru als Indiens erster Premierminister hatte großes mit dem jungen Staat vor. So stilisierte er vor dem Hintergrund des erhofften wirtschaftlichen Aufstiegs Fabriken zu "Tempeln des modernen Indiens". Diese Fabriken, aber auch die Kohlegruben, Stahlwerke und Dämme wurden – wie bereits vor der Unabhängigkeit – zumeist auf Adivasi-Land errichtet.

Der erste Ministerpräsident Bihars, Dr. S.K. Sinha, stellte die Separationsbestrebungen des südlichen Landesteils sogar als anti-national dar und drohte, gewaltsam gegen die Separatisten vorzugehen. Ignes Kujur, der von 1952-62 Landtagsabgeordneter der Jharkhand Party war, fasste die Regierungsarbeit jener Jahre wie folgt zusammen: "Die einzige Mühe die sich Patna für uns machte, bestand darin, uns erneut als rückständig zu deklarieren." (Kujur 2003 [1986]).

Die Regierung in Patna unternahm kaum etwas gegen die Ursachen des Entwicklungsdefizits. Beispielsweise wurde Adivasi-Land enteignet und die sich ausbreitenden Alkoholbrennereien nicht reglementiert, obwohl sie massiv zu den verheerenden Alkoholproblemen vieler Adivasi beitrugen.

Nach Ansicht Kujurs bestand die offizielle Politik der folgenden Jahre überwiegend darin, Zwietracht unter den Adivasi zu säen, indem Unterschiede zwischen den verschiedenen Ethnien oder zwischen Christen und Nicht-Christen betont wurden. Sogar manipulierte Zensusangaben dienten dieser Politik. Darüber hinaus erklärte die Regierung, dass ein separates Chotanagpur aufgrund der Rückständigkeit seiner Bewohner und der regionalen Unterentwickelung nicht lebensfähig sei (Kujur 2003 [1986]). Bei der Reorganisation der indischen Unionsstaaten in den 1950er und 60er Jahren fanden die Forderungen der Jharkhandis keine Berücksichtigung.

Darüber hinaus signalisierte die Sitzreservierungen für die so genannten Scheduled Tribes in den Parlamenten von Orissa und Madhya Pradesh den Adivasi im südlichen Bihar eine mögliche Macht-Partizipation. Das führte zu einem verstärkten Wettbewerb um Bildung, Arbeit und Entwicklung. Vor allem die nichtchristlichen Adivasi suchten dabei politisch Zuflucht bei der Kongresspartei und der hindunationalistischen Bharatiya Jana Sangh.

Als Konsequenz des chinesisch-indischen Grenzkriegs von 1962 übte die Kongresspartei derart großen Druck auf die Jharkhand Party aus, dass diese sich schließlich 1963 aus "nationalen Gründen" mit ihr vereinte. Durch die Korrumpierung ihrer Führungsspitze und den Tod von Jaipal Singh[4] war ein politisches Vakuum in Partei entstanden, das sie entscheidend geschwächt hatte. Zudem war sie von den Wählern zunehmend als Interessensvertreterin der städtischen Eliten wahrgenommen worden, die ignorant gegenüber den Problemen der ländlichen Bevölkerung war. Allerdings rief die Vereinigung mit dem National Congress erheblichen Widerstand innerhalb der Partei hervor. Verschiedene Dissidenten-Fraktionen gründeten nicht weniger als neun Nachfolge-Parteien, die alle um das Erbe der Mutterpartei konkurrierten.

Auch in den 1960er Jahren wurden weiterhin große Waldgebiete abgeholzt, Dämme errichtet, Landstriche zu Gunsten von Kohlegruben oder Minen enteignet und nach einem imperialistischen Raubbau verkarstet zurückgelassen. Viele Industrie-Projekte konnten nur realisiert werden, weil viele Tausende Adivasi-Familien umgesiedelt und ihre Dörfer zerstört wurden. Entschädigungszahlungen für die 6,5 Millionen vertriebenen Adivasi gab es oftmals nur auf dem Papier. Auf die Umwelt und damit auch auf den Lebensraum der Adivasi wurde selten Rücksicht genommen (Icke-Schwalbe 2003). Das trug spätestens seit Anfang der 1970er Jahre zur politischen Radikalisierung bei. Die Jharkhand-Bewegung begann, Streiks zu organisieren und durch die Blockade von Überlandstraßen und Eisenbahnverbindungen die Ausfuhr von Rohstoffen und Industriegütern zu behindern.

Insbesondere unter der Landbevölkerung kam es zur Verbreitung linker Ideologien (z.B. durch das 1971 gegründete Marxist Coordination Committee).[5] Die "Linksparteien" unterstützten zudem die Adivasi-Völker bei ihren Forderungen nach Autonomie.

1973 wurde die Partei Jharkhand Mukti Morcha (JMM) gegründet. In den ersten Jahren der Partei, in der einige charismatische linke Führer versammelt waren, gelang es ihr, Einigkeit unter den größeren Adivasi-Ethnien über die Autonomieforderungen herzustellen. Ihre Ziele fanden schon bald verbreitete Akzeptanz in den städtischen Gebieten Chotanagpurs (vor allem in Bokaro, Jamshedpur und Ranchi).

Nach den Jahren des Ausnahmezustandes unter Indira Gandhi (1975-77) plante die Janata Party-Regierung, Chotanagpur und Santhal Pargana als südliche Gebiete von Bihar abzutrennen und den selbständigen Unionsstaat zu verwirklichen. Aber ihre Regierungszeit war nur von kurzer Dauer, und die folgenden Jahre brachten wieder eine Zeit des Stillstandes in die Region.

In den späten 1980er Jahren versuchte die hindunationalistische Bharatiya Janata Party (BJP) dann mit der Forderung nach "Vananchal" (Sanskrit für Waldland) – ihrer Version eines neuen Bundesstaates – Wählerstimmen zu gewinnen. Dabei ging es ihr zum einen um die Entwicklung einer Oppositionspolitik gegenüber der in Delhi regierenden Kongresspartei. Zum anderen versuchte die BJP und das mit ihr verknüpfte hindunationalistische Netzwerk Sangh Parivar, die Adivasi als Ur-Hindus darzustellen, um auch der christlichen Missionsarbeit entgegenzuwirken.

Der sich abzeichnende Konsens der politischen Kräfte bezüglich einer Staatsgründung im südlichen Bihar veranlasste Premierminister Rajiv Gandhi, 1989 das Commitee on Jharkhand Matters unter Aufsicht des Innenministeriums ins Leben zu rufen. Allerdings verschwanden die nur halbherzig zusammengetragenen Ergebnisse einige weitere Jahre in der Schublade der Bürokratie von New Delhi.

Vor allem der damalige Ministerpräsident Bihars, der charismatische Laloo Prasad Yadav, war über viele Jahre hinweg ein deutlicher Gegner der Landesteilung. Um seinen Ausspruch, dass Jharkhand nur über seine Leiche hinweg entstehen könne, zu verteidigen, schaffte Laloo es auch, Mitglieder der oppositionellen JMM zu korrumpieren (Balakrishnan 2004).

Erst der Wahlsieg der BJP-geführten National Democratic Alliance auf nationaler Ebene im Jahr 1999 ebnete endgültig den Weg zur Selbstbestimmung. Zügig setzte die Vielparteien-Koalition unter Federführung von Innenminister L.K. Advani (BJP) das Wahlversprechen einer Neugliederung der Indischen Union um. Im August 2000 verabschiedete das Parlament in New Delhi die Bihar State Reorganisation Bill und stellte damit die Weichen für die Gründung Jharkhands.

Um letztendlich den Adivasi von Chotanagpur nicht zuviel Macht zu gewähren, widersprachen sowohl die meist BJP-geführten Landesregierungen der Nachbarstaaten als auch die Zentralregierung dem Wunsch nach einem größeren Jharkhand. Die ursprüngliche Vision von einem eigenen Unionsstaat beinhaltete auch Teile von West-Bengalen, Orissa und Madhya Pradesh [6] (vgl. Roy 2003[1982]). Das letztendlich im November 2000 als Jharkhand selbständig gewordene Gebiet beinhaltet nur die 18 südlichen Distrikte Bihars.

Das Landesparlament des jungen Unionsstaates setzt sich aus 81 Abgeordneten zusammen. Jharkhand entsendet 14 Abgeordneten in das indische Unterhaus (Lok Sabha). Die dominanten politischen Parteien sind die BJP, die Kongresspartei und die JMM. Weitere wichtigere Parteien sind die Communist Party of India, die Rashtriya Janata Dal von Laloo Prasad Yadav, und die Janata Dal (United).

Zwar waren die ersten beiden (BJP- )Ministerpräsidenten Adivasi, doch leidet ein Großteil dieser Bevölkerungsgruppe weiterhin unter dem Landraub, wirtschaftlicher wie ökologischer Ausbeutung und kultureller Diskriminierung. Die Verbesserung der ökonomischen Situation ist die große Herausforderung der Zukunft. Insbesondere gilt es, den Ausbau der Infrastruktur (Straßen, Wasser- und Elektrizitätsversorgung) voranzutreiben und die marode staatliche Schwerindustrie zu sanieren.

Anmerkungen

[1] Der Untersuchungsbericht des Commitee on Jharkhand Matters von 1990 verdeutlichte, dass alle Distrikte des heutigen Jharkhand unterhalb des Entwicklungsniveaus von Bihar lagen. Selbst der Dhanbad-Distrikt, der dem Bericht zufolge am meisten entwickelte in Jharkhand, lag auf einer Skala von 39 möglichen Punkten bei nur 19 (vgl. A. K. Singh).

[2] Die größten Kohlevorkommen Indiens sind die Felder von Jharia und Raniganj im Damodar-Tal. Die Kohle wird zumeist unter primitiven Arbeitsbedingungen im Tagebau gefördert. Insgesamt gehören die indischen Kohlevorkommen hinter denen der USA, Chinas und Russlands zu den weltweit größten.

[3] Der Name Jamshedpur beruht auf der Stadtgründung durch den bedeutenden Industriellen Dorabji Jamsetji Tata von 1907. Dieser industriell wichtigste Ort ist zugleich eine der am schnellsten wachsenden Städte des Unionsstaates. Als mittlerweile zweitgrößte Stadt verfügt Jamshedpur über eine gut ausgebaute Infrastruktur, wichtige Straßen und Eisenbahn-Verbindungen, Eisen- und Stahlwerke, eine Lokomotivteil- Lastkraftwagenproduktion (Tata Engineering and Locomotive Company) sowie Fabriken für die Herstellung von Landwirtschaftsmaschinen. In Jamshedpur befindet sich das National Metallurgical Laboratory, acht Berufsschulen mit Anbindung an die Universität von Ranchi und eine der drei Unikliniken des Staates.

[4] Er war als ehemaliger Kapitän der indischen Hockeymannschaft, die 1928 während der Olympiade Gold gewann, die Ikone der Bewegung.

[5] Vor allem die Naxaliten machten sich die Probleme der Adivasi und kastenlosen Dalits zur Agenda. Die mittlerweile weitestgehend von ihrer Ideologie abgerückte Gruppe Maoist Communist Centre – inzwischen mit der in Andhra Pradesh operierenden Gruppe People´s War vereint – ist seit Jahrzehnten in Chotanagpur aktiv. Besonders in den ländlichen Gebiete der Distrikte Giridih, Chatra, Hazaribagh, Palamu, Kodarma, Bokaro, Ost- und West-Singhbhum erpressen sie in Mafiamanier Schutzgelder, so genannte "Levy". Die Polizei ist nahezu hilflos: Beispielsweise walten und schalten die Naxaliten in acht der zwölf Blöcke des Giridih-Distrikts.

[6] Die Gebiete des ehemaligen Madhya Pradeshs, die hauptsächlich von den Adivasi-Völkern der Gond und Khond bewohnt sind, wurden ebenfalls im Jahr 2000 als 27. Unionsstaat Chhattisgarh selbständig.

Quellen

  • Anand, B.R. [Hrsg.] (2002): Ultimate School Atlas. Sahibabad [Uttar Pradesh]: Holy Faith International.
  • Balakrishnan, Rajiv (2004): Jharkhand Matters. Essays on Ethnicity, Regionalism and Development. New Delhi : Konark Publ.
  • Bandyopadhyay, Madhumita (Hg.) (2004): "Immigration into Chotanagpur and Its Demographic Consequences", in: Balakrishnan (2004), S.80-115
  • Hörig, Rainer (2000): "Neuer Bundesstaat Jharkhand - Werden Träume der Adivasi wahr?", in: Adivasi-Rundbrief, 12/2000 (September)
  • Icke-Schwalbe, Lydia (2003): "Menschenrechte und Naturschutz - eine deutsche und indische Wahrnehmung", in: Mitteilungsblatt der Deutsch-Indischen Gesellschaft. 1/2003
  • Kujur, Ignes (2003)[1986]: "Jharkhand Betrayed", in: Munda / Mullick (2003), S.16-30
  • Munda, Ram Dayal / Mullick, S. Bosu (Hg.) (2003): The Jharkhand Movement. Indigenous Peoples' Struggle for Autonomy in India. IWGIA Document No. 108. New Delhi : International Working Group on Indigenous Affairs (Copenhagen) and Bindrai Institute for Research Study and Action (Jharkhand)
  • Roy, A.K. (2003)[1982]: "Jharkhand: Internal Colonialism", in: Munda / Mullick (2003), S.79-85
  • Sengupta, Nirmal (2003) [1988]: "Jharkhand Movement & Tribal Identity", in: Munda / Mullick (2003), S.333-347
  • Singh, Amar Kumar (2004): "Jharkhand Katha. A Tale of Swadeshi Colonialisation", in: Balakrishnan (2004), S.29-76
  • Thapar, Romila / Siddiqi, Majid Hayat (2003) [1979]: "Chotanagpur. The Pre-Colonial and Colonial Situation", in: Munda / Mullick (2003), S.31-72

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