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Delhi/Kolkata. In den Morgenstunden des 27. Februar 2002 wurden auf dem Bahnhof von Godhra, einer Kleinstadt 150 km östlich von Ahmedabad, der Hauptstadt Gujarats, bei einem Brandanschlag auf den Sabarmati Express 58 Menschen getötet und 43 verletzt. Bei den Opfern des Angriffs, an dem nach Augenzeugenberichten bis zu 2.000 Personen beteiligt waren, handelt es sich vornehmlich um hindunationalistische Freiwillige und ihre Familien, die aus dem nordindischen Ayodhya zurückkehrten, wo sie an einer Massenkundgebung des Vishwa Hindu Parishad (VHP - Weltrat der Hindus) teilgenommen hatten.
Der Übergriff steht aller Voraussicht nach in direktem Zusammenhang mit den umstrittenen Plänen des hindunationalistischen VHP, auf den Trümmern der am 6. Dezember 1992 zerstörten Babri-Moschee einen Tempel zu Ehren des Gottes Ram errichten zu wollen. Die Schleifung der Moschee hatte vor zehn Jahren eine Welle kommunalistischer Gewalt in vielen Teilen Indiens, in Pakistan und Bangladesch ausgelöst, bei der mehr als 2.000 Menschen, vorwiegend Muslime, den Tod fanden. Auf einer All-Parteien-Konferenz am 26. Februar 2002 hatte sich der indische Premierminister Atal Behari Vajpayee noch vehement gegen das Vorhaben des VHP ausgesprochen. Doch die radikale Organisation hält nach wie vor an ihrem Vorhaben fest, am 15. März mit dem Bau des Tempels beginnen zu wollen.
Unmittelbar nach Bekanntwerden des Anschlags in Godhra verurteilten die Spitzen von Regierung und Opposition die Tat aufs schärfste und forderten eine lückenlose Aufklärung. Premierminister Vajpayee verschob seine geplante Australien-Reise und Innenminister L.K. Advani kündigte an, sich vor Ort ein Bild von der Situation machen zu wollen. Auch Sonia Gandhi, die Vorsitzende der oppositionellen Kongresspartei, drückte ihre tiefe Bestürzung aus. Vajpayee appellierte angesichts des Gewaltausbruchs noch einmal an den VHP, vorerst vom Bau des Tempels in Ayodhya abzusehen und forderte alle Seiten auf, den Frieden zwischen den Religionsgemeinschaften zu bewahren.
Ein Aktivist der VHP-Jugendorganisation Bajrang Dal in Ahmedabad |
Doch der Appell blieb ungehört. Die vom VHP angekündigten Proteste schlugen binnen Stunden in Gewalt um. Der VHP macht Muslime für den Anschlag verantwortlich und bereits unmittelbar nach den Ereignissen von Godhra kam es nach indischen Fernsehberichten zu Unruhen in Ahmedabad und Baroda. Im Verlaufe des 28. Februar eskalierte die Situation schließlich. Nach Angaben der Tageszeitung The Hindu sind bei Ausschreitungen in mehreren Teilen Gujarats mindestens 140 Menschen getötet worden, und muslimische Geschäfte wurden geplündert und gingen in Flammen auf. In Ahmedabad seien allein 60 Menschen in einem vorwiegend von Muslimen bewohnten Viertel verbrannt. 30 weitere seien bei Unruhen in anderen Stadtteilen ums Leben gekommen. Dem Sender All India Radio zu Folge sollen neuerlichen Ausschreitungen am 1. März erneut Dutzende Menschen zum Opfer gefallen sein, womit die Gesamtzahl der Toten auf insgesamt mehr als 200 gestiegen ist.
Die Sicherheitslage hat sich dramatisch zugespitzt. Über 26 Städte in Gujarat wurde eine Ausgangssperre verhängt, und in Ahmedabad trafen mittlerweile Einheiten der Armee ein, um die Situation unter Kontrolle zu bringen, die von Augenzeugen als "gesetzlos" und "beängstigend" beschrieben wird. Am Morgen reiste der indische Verteidigungsminister Georges Fernandes nach Ahmedabad, um mit Gujarats Innenminister Ashok Narayan die Lage zu beraten. Zudem wird befürchtet, dass sich nach dem Protestaufruf des VHP die Ausschreitungen auch auf andere Teile Indiens ausweiten könnten. In Ayodhya, wo bereits seit Wochen ein großes Sicherheitsaufgebot präsent ist, wurden die Polizeikräfte noch einmal verstärkt. In den Unionsstaaten Uttar Pradesh und Bihar wurde die höchste Alarmstufe ausgerufen. In Mumbai (Bombay) hinderte die Polizei radikale Hindus daran, nach Gujarat zu reisen, um sich an der Unruhen zu beteiligen. Auch in der Hauptstadt New Delhi und der ostindischen Metropole Kolkata (Kalkutta), wo die Situation nach wie vor ruhig ist, kann verstärkte Polizeipräsenz beobachtet werden. In diesen beiden Städten gilt allerdings nach den Anschlägen auf das indische Parlament am 13. Dezember letzten Jahres bzw. das US-amerikanische Kulturzentrum am 22. Januar ohnehin schon erhöhte Sicherheitsstufe.
Es bleibt abzuwarten, wie sich die Lage in den kommenden Tagen entwickeln wird. Doch angesichts der verheerendsten kommunalistischen Unruhen seit Jahren ist die indische Regierung nun gefordert, gegen radikalen Kräfte auf beiden Seiten vorzugehen und vor allem ihre zurückhaltende Politik gegenüber den radikalen hindunationalistischen Organisationen zu überdenken.
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