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22. September 2001. Nachrichten: Politik & Recht - Afghanistan "Grenzenlose Gerechtigkeit" für Afghanistan

"Die Taliban müssen handeln, und zwar sofort. Sie werden die Terroristen ausliefern oder ihr Schicksal teilen." Die Forderungen der Vereinigten Staaten sind eindeutig.

In seiner Rede vor den beiden Häusern des Parlaments am 20. September forderte Präsident Bush die sofortige Auslieferung aller führenden Mitglieder des terroristischen Netzwerks Al-Qaida, die Schließung aller islamistischen Trainingscamps in Afghanistan, die Auslieferung ihrer Betreiber und Unterstützer und die Gewährung uneingeschränkten Zutritts zu diesen Lagern für amerikanische Dienste, sowie die Freilassung der seit Anfang August inhaftierten westlichen Mitarbeiter der Hilfsorganisation Shelter Now. Andernfalls werden die USA militärisch gegen die Taliban vorgehen. Dies würde nicht nur Luftangriffe wie in Jugoslawien und Irak beinhalten, zu erwarten sei eine langfristige Kampagne mit spektakulären Schlägen ebenso wie verdeckten Operationen. Doch in einem Landkrieg wird die behauptete Unterscheidung zwischen Terroristen und ihren Unterstützern - den Taliban - sowie der Zivilbevölkerung noch weniger aufrecht zu erhalten sein als in dem Krieg gegen Jugoslawien.

Am 20. September hatten mehrere hundert Geistliche auf einer Versammlung in Kabul beschlossen, den von den USA als Hauptverdächtigen der Anschläge vom 11. September gesuchten Osama Bin Laden nicht auszuliefern, sondern zu bitten, Afghanistan freiwillig zu verlassen. Die Taliban-treuen Geistlichen beschlossen in ihrer Versammlung außerdem, ein Angriff auf ihr Land werde einen Jihad gegen die Vereinigten Staaten auslösen. Am 19. September hatte Mullah Omar, Führer der radikalen Milizen, die fast das ganze Land beherrschen, die Überstellung Bin Ladens in ein anderes muslimisches Land angeboten, wo ihm der Prozess gemacht werden könne. Auch der Beschuldigte selbst sei damit einverstanden, schließlich habe er mit den Attentaten nichts zu tun. Aber halbherzige Erklärungen, taktisches Lavieren oder gar Drohungen werden weder den Milizen noch der von ihnen wie unmündige Kinder behandelten Zivilbevölkerung helfen, der Rache der US-Streitkräfte zu entgehen.

Derzeit ziehen die USA vor der Südküste Pakistans Flugzeugträger zusammen. Voraustrupps der Marines sollen sich schon in Pakistan aufhalten. Die Taliban sperrten den Luftraum über ihrem Einflussgebiet und sollen bis zu 25.000 Kämpfer nahe des Khyber-Pass, der wichtigsten Verkehrsverbindung zwischen Afghanistan und Pakistan, zusammengezogen haben. Auch Scud-Raketen seien dort stationiert worden. Flüchtlinge berichteten, eine allgemeine Mobilmachung habe begonnen.

Unmittelbar nach den verheerenden Anschlägen von New York und Washington war Osama bin Laden, der sich vermutlich in Afghanistan aufhält, von der US-amerikanischen Regierung zum Hauptverdächtigen erklärt worden. Am 13. September erklärte Präsident Bush, die Bestrafung der Urheber des Anschlages und der sie deckenden Staaten würde eine "Vergeltung" weit übersteigen. Es werde sich um einen "Feldzug" handeln. Am selben Tag äußerte US-Außenminister Powell, die Vereinigten Staaten seien sich nun sicher, dass Bin Laden in die Anschläge verwickelt sei.

Massenflucht aus den Städten

Die Angst vor nahenden Angriffen hat den Exodus aus Afghanistan verstärkt. Seit Jahren fliehen afghanische Bürger vor dem Bürgerkrieg und vor Hungersnöten in das Nachbarland Pakistan. Flüchtlingslager in der North-Western Frontier Province (NWFP) beherbergen bereits mehrere hunderttausend Flüchtlinge unter zum Teil katastrophalen Bedingungen, insgesamt leben zwei Millionen afghanische Flüchtlinge in Pakistan.

Die jetzt ausgelösten Fluchtbewegungen betreffen vor allem die afghanischen Städte. Aus Kandahar, dem Sitz der Taliban-Führung, soll nach Auskünften des UN-Flüchtlingskommissariats der Vereinten Nationen bereits die Hälfte der Zivilbevölkerung geflohen sein. Auch aus Kabul zögen Massentracks Richtung Osten. Neben Pakistan - allein in den Tagen bis zum 17. September wurden über 30.000 afghanische Neuankömmlinge gemeldet - sind vor allem Dörfer fern der Ballungszentren Ziel der Flucht. Auch in den Iran flohen einige Tausend Menschen. Iran beherbergt bereits etwa eine Million Afghanen, die seit Beginn des Bürgerkriegs vor 23 Jahren flohen. Derzeit werden dort sieben Flüchtlingslager errichtet, um bis zu 200.000 weitere Flüchtlinge, die nach Beginn der Angriffe erwartet werden, aufzunehmen.

Nach der Einstellung der Lebensmittelverteilung durch das World Food Program der Vereinten Nationen am 12. September und des Abzugs fast aller ausländischen Helfer, nach einer Dürre in weiten Teilen des Landes und in Anbetracht des nahenden Winters fürchten UN-Mitarbeiter jetzt eine Hungersnot, die bis zu vier Millionen Afghanen betreffen könnte. Die derzeitigen Vorräte des Ernährungsprogramms und des Internationalen Roten Kreuzes reichen für etwa drei Wochen.

Am 14. September hatte die pakistanische Regierung die Grenzkontrollpunkte geschlossen, drei Tage später jedoch für Inhaber gültiger Papiere wieder geöffnet. Die Taliban sollen Zivilisten am Verlassen Kabuls hindern. Die Massenflucht entlang der 1600 km langen Grenze zwischen Afghanistan und Pakistan sowie entlang der etwa halb so langen Grenze zum Iran wird sich dadurch aber nicht stoppen lassen.

Unklare Lage der Nordallianz

Nachdem am 9. September ein Attentat auf Ahmed Shah Massud, den charismatischen Führer der letzten gegen die Taliban Widerstand leistenden Gruppen, verübt worden ist, bestätigte sein Sprecher am 15. September dessen Tod. Die vorwiegend aus tadshikisch- und usbekisch-sprechenden Gruppen bestehende Nordallianz beherrscht nur Teile von zwei Provinzen des Landes, die dünnbesiedelten Täler der Provinzen Takhar und Badakshan im äußersten Nordosten. Die durch Abspaltung einzelner Verbündeter und militärische Niederlagen geschwächte Allianz verlor mit Massud ihre wichtigste Integrationsfigur.

Zum Nachfolger wurde ein enger Vertrauter Massuds, der 44-jährige Mohammed Fahim Khan erklärt. Fahim war zwischen 1992 und 1994 Sicherheitschef der Regierung in Kabul gewesen. Die NZZ berichtet, er sei als Mujaheddin-Führer bisher kaum in Erscheinung getreten. Es bleibt abzuwarten, ob er neben strategischer Weitsicht auch das nötige Charisma aufbringt, die geschwächte Allianz zusammenzuhalten.

Am 21. September meldete die Nordallianz, ihre Truppen hätten Dörfer und Taliban-Stützpunkte in den weiter westlich gelegenen Provinzen Samagan und Balkh erobert. Dabei seien Dutzende Taliban-Kämpfer und vier aus den eigenen Reihen getötet worden. Die Taliban bestätigten lediglich, dass es zu Kämpfen gekommen sei. Außerdem wird berichtet, dass Rashid Dostum, Führer mehrerer usbekisch-sprachiger Gruppen, erneut in die Kämpfe eingreife. Seine Truppen hätten sich nahe Mazar-i-Sharif zusammengezogen. Vermutlich gehen die gemeldeten Geländegewinne in Balkh, dessen Hauptstadt Mazar-i-Sharif ist, auf seine Truppen zurück.

Schon in der Nacht des 12. September wurden Luftangriffe nördlich von Kabul gemeldet. Nachdem zunächst vermutet worden war, es handele sich um erste Vergeltungsschläge der US-Streitkräfte, stellte sich wenig später heraus, dass sie der Nordallianz zuzurechnen waren.

Bisher scheint noch nicht absehbar, wie sich das Eingreifen der Amerikaner langfristig auf die afghanische Opposition auswirken wird. Die der Nordallianz nahestehende Exilregierung hatte in einer Presseerklärung vom 12. September erklärt, sie unterstütze Angriffe auf terroristische Ausbildungszentren in Afghanistan. Sie forderte die US-Regierung auf, die Nordallianz "aktiv" zu unterstützen. Möglicherweise führt eine amerikanische Unterstützung und eine geschickte Politik des neuen Führers der Allianz zu einer Ausweitung ihrer Herrschaft oder langfristig gar zur Etablierung demokratischer Strukturen. Zu befürchten ist allerdings, dass die ausländische Einflussnahme nur zur erneuten Errichtung einer Stellvertreterherrschaft führt, die nach Abzug der Truppen der Schutzmacht - wie schon das "sozialistische" Regime vor einem Jahrzehnt - in rivalisierende Gruppen zerfällt.

Quellen

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