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20. April 2004. Nachrichten: Politik & Recht - Indien Lobpreisung Vajpayees allgegenwärtig

670 Millionen Wahlberechtigte entscheiden ab 20. April über das neue Parlament

Delhi. Somabai lebt in einem der 52 Baiga-Dörfer im Dindori-Distrikt von Madhya Pradesh. Die Baiga gehören zu den Adivasi, den Ureinwohnern Indiens. Sie leben in höchst bescheidenen Verhältnissen, fast unberührt von jeglicher Entwicklung. Die nächste Bahnstation ist 200 Kilometer entfernt, der nächste Gesundheitsposten 18 Kilometer. Kein Strom, kein Telefon, keine Schule. Somabai läuft gemeinsam mit anderen Frauen ihres Dorfes jeden Morgen sechs Kilometer bis zur Trinkwasserstelle. Von "India Shining" (Indien glänzt), dem Wahlslogan der hindunationalistischen Indischen Volkspartei (BJP), hat Somabai noch nie gehoert, ahnt aber, was gemeint ist, und entgegnet: "Bei uns scheint nur die Sonne."

Aus der politischen Landschaft von mindestens 50 Parteien, die ihre Favoriten ins Rennen schicken, ragen die BJP, die in den letzten fünf Jahren mit Hilfe der Nationalen Demokratischen Allianz (NDA) regierte, und als älteste politische Formation die Kongresspartei (Indischer Nationalkongress) heraus. Keine von beiden, da sind sich alle Experten einig, wird eine Mehrheit bekommen, die zum Alleinregieren reicht. Eine dritte – wenn auch nicht vereinte – Kraft stellen die linken, andere säkulare und regionale Parteien dar.

Die nächste Regierung, das lässt sich auch aus den Meinungsumfragen ablesen, wird eine Koalition sein. Dafür hat die BJP die besseren Karten, weil sie bereits Bündnispolitik praktiziert. Hingegen entschloss sich die Kongresspartei, verwöhnt durch Jahrzehnte der Alleinherrschaft unter Jawaharlal Nehru und Indira Gandhi, erst ziemlich spät, auf die Suche nach Koalitionspartnern zu gehen. In zwei Regionen gelang das, landesweit aber nicht.

Der ersten Etappe am 20. April folgen bis zum 10. Mai weitere drei Wahlgänge in allen 28 Bundesstaaten und sieben Unionsterritorien. Diese Staffelung ist aus verwaltungstechnischen und aus Sicherheitsgründen erforderlich, denn in etlichen Landesteilen kann eine normale Stimmabgabe nur durch die deutliche Präsenz von militärischem Personal gewährleistet werden. Am 13. Mai erfolgen die Auszählung der Stimmen und die Bekanntgabe der Resultate.

Die BJP/NDA zog in der Wahlkampagne alle Register, die Wählerschaft zu ködern. Sie erfand neben dem Sloagan "India Shining" einen "Feel Good Factor". Übermächtig wurde zudem der 80-jährige Premier Atal Bihari Vajpayee als "Hoffnung der Nation" plakatiert. Dazu eine aufwändige Lobpreisung der Errungenschaften der BJP/NDA – beispielsweise das verbesserte Straßennetz, eine Währungsreserve von 116 Milliarden Dollar, gute Agrarerträge, boomende Exporte, Gespräche mit kaschmirischen Separatisten und ein entspanntes Verhältnis zum Nachbarn Pakistan. Märchenhafte Zeiten verspricht das NDA-Dokument "Vision 2004" mit dem Beginn einer "zweiten grünen Revolution" im August dieses Jahres, der Ausrottung der Armut bis 2015 und – ohne Zeitangabe – der Gestaltung Indiens zur "wirtschaftlichen Supermacht".

Berühmte Filmschauspieler, Sänger, Tänzerinnen und Sportler wurden für den Eintritt in die BJP gewonnen und sogar prominente Politiker aus dem gegnerischen Lager zum Überlaufen veranlasst. Zugleich ließ die BJP ihre Eiferer gezielt gegen Kongressparteichefin Sonia Gandhi vorgehen. Deren italienische Herkunft (sie besitzt längst die indische Staatsbürgerschaft) wurde zu einem "nationalen Problem" aufgebauscht. Obendrein kramte die BJP Korruptionsvorwürfe (im indisch-schwedischen Bofors-Waffengeschäft) gegen den 1991 ermordeten Expremier Rajiv Gandhi hervor. Und schließlich rundete sie ihre Strategie mit der Aufnahme eines Sprosses der Nehru-Gandhi-Familie in die eigenen Reihen ab: Der 24-jährige Feroze Varun Gandhi, ein Enkel Indiras, und dessen Mutter Maneka werben seit ein paar Wochen für die BJP.

Gegenüber dieser verführerischen Wahlpropaganda wirkte die Kongresspartei hausbacken. Lediglich "India Shining" und "feel good" nahm sie aufs Korn und argumentierte recht überzeugend, dass sich höchstens zehn Prozent der Inder – die Wohlhabenden – richtig gut fühlen. Die Arbeits- und Obdachlosen, das Heer der Millionen unter der Armutsgrenze Lebenden, der Großteil der 700 Millionen Menschen in den 600000 Dörfern, die Slumbewohner, Kinderarbeiter und Analphabeten, die Unterernährten, die diskriminierten Angehörigen niederer Kasten und die Adivasi – darunter die Baiga in Madhya Pradesh – fühlen sich miserabel und müssen sich abrackern, um irgendwie über die Runden zu kommen.

Doch das Wahlmanifest der Kongresspartei bietet keine Alternative zur BJP. Sonia Gandhi spielte im März ihren letzten vermeintlichen Trumpf aus, indem sie ihren Sohn Rahul als Kandidaten für den Wahlbezirk Amethi im Bundesstaat Uttar Pradesh aufstellte. In dieser Region ist die Nehru-Gandhi-Dynastie seit Jahrzehnten populär und Rahul wird gewiss ins Parlament gewählt. Aber es bleibt zweifelhaft, ob die Kongresspartei und ihre Partner damit den Durchbruch schaffen.

Quelle: Der Beitrag erschien am 20. April 2004 in der Tageszeitung "Neues Deutschland".

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