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17. Juni 2002. Nachrichten: Politik & Recht - Afghanistan Beihilfe zur Geiselnahme

Wie USA und UNO die Loya Jirga den Fundamentalisten ausliefern

Der wiedergewählte Staatschef Hamid Karzai forderte am Sonnabend (15.6.2002) die Loya-Jirga-Mitglieder auf, ein provisorisches Parlament zu wählen, "auch wenn es nicht im Abkommen von Bonn vorgesehen ist".

"Wenn ich hier die vielen Herren Kommandeure sitzen sehe, frage ich mich, ob ich in einer Loya Jirga bin oder in einem Militärrat." Was der Abgeordnete Zaffar Muhammad, ein graubärtiger paschtunischer Greis aus der Provinz Farah mutig ins Saalmikrofon sprach, war wohl das bisherige Zitat der Großen Notabelnverammlung, die vermutlich noch bis einschließlich Montag (17.6.) – also einen Tag länger als geplant – in Kabul tagen wird. Tatsächlich. Dort sitzen sie alle: Burhanuddin Rabbani und Abdul Rabb Rassul Sayyaf, der vierschrötige General Muhammad Fahim in Nachfolge des Al-Qaida-Opfers Ahmad Schah Massud, einst dessen Geheimdienstchef, der "gemäßigte" Pir Seyyed Ahmad Gailani und selbst Sebghatullah Modshaddedi ist wieder seinem politischen Grabe entstiegen. Für den jüngst verstorbenen Maulawi Muhammad Nabi Muhammadi, dessen Anhänger den Grundstock der Taleban gebildet hatten, sitzt ein weiterer Modshaddedi-Spross unauffällig im Publikum. Es fehlt nur Gulbuddin Hekmatyar, der in Washington ins Ungnade gefallen war, nachdem er während des Golfkriegs die Partei Saddam Husseins ergriffen hatte.

Karzai: Sie sitzen zurecht in der ersten Reihe

Zu ihnen ist General Abdurraschid Dostum gestoßen, bis 1992 Kommandeur der berüchtigten Schocktruppen Präsident Najibullahs, dann zu den Mujaheddin übergelaufen. Daneben die Newcomer der letzten Runde des Krieges, die zwischen 1992 und 1996 noch unbekannte Unterführer waren: Atta Muhammad, den die UNO gerade daran hindern konnte, im Zweikampf mit Dostum Mazar-e Sharif erneut in Trümmer zu verwandeln; Innenminister Junis Qanooni, der nach 1992 eine Sondergruppe geleitet haben soll, die auch für die Ermordung von politischen Gegnern zuständig gewesen ist.

Hamid Karzai, der am Donnerstag mit großer Stimmenmehrheit zum Präsidenten der künftigen Übergangsadministration gewählte eloquente Liebling Washingtons und der westlichen Medien, findet das auch gut so. "Sie sitzen zurecht dort in der ersten Reihe", sagte er in einer seiner bisher sieben Redeauftritte vor der Loya Jirga. Zur Eröffnung der Versammlung saßen dort noch die 21 Mitglieder der Unabhängigen Vorbereitungskommission, von denen die meisten trotz enormen internen Drucks und systematischer auswärtiger Versuche, ihre Autorität und damit Handlungsfähigkeit zu unterminieren, ihre Unabhängigkeit bis in diese Tage bewahrt haben. Vor ihnen drängen sich die Pakols der Mujaheddin, die langen Bärte paschtunischer Wahhabiten und die schwarzen Turbane hoher schiitischer Geistlicher.

Das alles ist zutiefst symbolisch. Es widerspiegelt die Übernahme der Loya Jirga – des bisher demokratischsten Prozesses in der afghanischen Geschichte – durch die Anti-Taleban-Fraktion der Fundamentalisten, die hier einen nachträglichen Sieg einfahren und diesen durch eine rhetorische Verdrehungsübung zu legitimieren suchen. Da bezeichnet Muhammad Alam Izzatyar, einer der Chefideologen der derzeit in Kabul herrschenden Fraktion, die "Parcham- und Khalq-Kommunisten" (gemeint ist die Demokratische Volkspartei Afghanistans) als die "Ursache allen Unglücks der vergangenen 23 Jahre" und den "Widerstand gegen die Kommunisten und gegen die (Taleban- und Al-Qaida-)Terroristen" als die "strahlendste Periode in der afghanischen Geschichte". Ausgeblendet bleiben die vier Jahre zwischen 1992 und 1996, als sich die einstigen Anführer des antisowjetischen Widerstands selbst ihr politisches Grab gruben, indem sie sich nach ihrem Einmarsch in Kabul 1992 in mörderische Fraktionskämpfe verwickelten und die bis dahin heilgebliebene afghanische Hauptstadt in Schutt und Asche legten.

Aber nur wenige wagen Widerspruch gegen die Geschichtsklitterung. Ein paar Frauen, die ihre Stimmen gegen Sayyaf erheben, werden von einer gut 200 Mann starken Mujaheddin-Fraktion niedergebrüllt. Ein Kabuler Abgeordneter, der in seiner Rede sagt, nicht nur Massud sei als Märtyrer zu verehren, sondern auch das halbwüchsige Mädchen, das sich vom Balkon ihres Wohnblocks stürzte, um Vergewaltigern zu entgehen, und dessen Mutter, die anschließend vor Kummer Selbstmord verübte, wird derart unter Druck gesetzt, dass er sich ins UNO-Büro auf dem Loya-Jirga-Gelände flüchten muss.

Das ist der offene Triumph jener Kräfte, die schon die von der UNO organisierten indirekten Wahlen zur Loya Jirga manipulierten, wo sie nur konnten. Ex-Präsident Rabbani und das Politbüro der Shura-ye Nazar, einem landesweiten Netzwerk von Kommandeuren, verteilten Millionenbeträge an Abgeordnete. Nicht Linientreue wurden durch ein Gemisch von Bestechung und Bedrohung gefügig gemacht. Nur wenige konnten sich durchsetzen wie der Herater Rafiq Shahir, den der örtliche Warlord Ismail Khan zeitweilig einsperren und foltern ließ. Viele andere wählten den Verzicht auf ihr Mandat oder gingen sogar wieder in den Untergrund. Mindestens vier Kandidaten bezahlten ihren Willen, ein politisches Mandat wahrzunehmen, mit dem Leben. Aber das ist wahrscheinlich nur die Spitze des Eisbergs.

Die Mujaheddin-Fundamentalisten haben schnell begriffen, dass sich die so genannte internationale Gemeinschaft trotz gegenteiliger Versprechen nur halbherzig in Afghanistan engagiert. Zunächst weigerte sie sich, das Mandat der Friedenstruppe ISAF über Kabul hinaus zu erweitern, obwohl dies fast einheitlich von der gesamten afghanischen Bevölkerung, Übergangspremier Karzai, UNO-Generalsekretär Kofi Annan und selbst allen ISAF-Kommandeuren befürwortet wurde, um die unter den Gewehrläufen der Warlords stattfindenden Wahlen zu schützen. Das die im Januar in Tokio vollmundig versprochenen Milliarden zum Wiederaufbau des Landes immer noch auf sich warten lassen, untergrub das Vertrauen der Afghanen in den Friedensprozess weiter. Bis heute kann sie sich nicht dazu durchringen, demokratische Kräfte in nennenswertem Maße zu fördern, die mithelfen könnten, das Land politisch zu stabilisieren. Schließlich ließ der UNO-Sonderbeauftragte für Afghanistan, Lakhdar Brahimi, von Anfang an Verletzungen des Bonner Abkommens zu. So wurde Kabul nicht wie vorgesehen entmilitarisiert, sondern die eingerückten Nordallianz-Milizen wurden zu regulären Armee- oder Polizei-Einheiten erklärt. Die UNO versagte in einer weiteren entscheidenden Frage, wie das Mitglied der Loya-Jirga-Kommision Sebghatullah Sandshar jüngst im ND-Interview (11. Juni) berichtete: Zusammen mit USA-Sonderbotschafter Zalmai Khalilzad und Karzai setzte Brahimi das Gremium so lange unter Druck, bis es Karzai ermächtigte, 50 zusätzliche Loya-Jirga-Sitze zu verteilen. Die gingen u.a. an die 32 Provinzgouverneure, die meist nichts Anderes sind als Warlords in Amt und Würden. Sie agierten dort als "Armumdreher", wie Professor Omar Zakhilwal es bezeichnet, der in Kabul die afghanische Diaspora in Kanada vertritt. "Nachdem sie den Wahlprozess in vielen Regionen Afghanistans untergraben hatten, versuchen die Warlords nun, die Loya Jirga selbst als Geisel zu nehmen", meint Saman Zia-Zarifi, Vertreter der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch.

Eine unrühmliche Rolle bei diesen Manipulationen spielt der Vorsitzende der Loya-Jirga Kommission Ismail Qasemyar, der als Favorit Karzais und Brahimis für dieses Amt galt. Es war alles andere als Zufall, dass ausgerechnet Qasemyar schon am zweiten Tag der Loya Jirga überfallartig die Wahl Karzais zum Staatschef per Akklamation durchsetzen wollte, noch bevor die Abgeordneten überhaupt die Chance hatten, über Alternativkandidaten nachzudenken. Durch die gesamte Sitzungsperiode, das konnte man bei der Live-Übertragung im afghanischen Radio gut verfolgen, schnitt er Rednern aus dem Plenum das Wort ab. Nur wenige haben die Möglichkeit wie Professor Zakhilwal, ihren Protest ins Internet zu stellen. Dort erklärte er: "Ich gehöre zur schweigenden Mehrheit der Loya Jirga – oder besser, der zum Schweigen gebrachten Mehrheit –, die nach Kabul kam in der Erwartung, die Zukunft unserer Nation zu formen... Wir kamen, um die Interessen der gesamten afghanischen Nation zu repräsentieren – 1500 Delegierte für 25 Millionen Menschen – aber wir werden stattdessen gedrängt, die engstirnige Agenda von Warlords und ihrer auswärtigen Sponsoren zu unterstützen."

Dass die neue Übergangsadministration keine größere Legitimität haben wird als die in Bonn ausgehandelte, kann erhebliche Folgen haben. Zwar rechnet in Afghanistan kaum jemand damit, dass es wieder zu größeren Kämpfen kommt, aber Karzai, der nur über eine sehr schmale Stammesbasis verfügt, hat jetzt die Stimmen aller wichtigen Warlords erhalten und sich ihnen damit verpflichtet. Für den Fall, dass Karzai nicht spurt, zeigte ihm Sayyaf in seiner Rede schon einmal die Instrumente: Zwar müsse man einer islamischen Regierung, wenn man ihr einmal die Treue bekundet habe, folgen – aber: ›Wer Gott und seinem Propheten nicht gehorcht, ist es nicht wert, befolgt zu werden‹." Mit anderen Worten: Errichtet Karzai nicht, wie von vielen fundamentalistischen Rednern gefordert, eine islamische Regierung, droht ihm der Aufstand. Der erste Schritt dorthin ist bereits getan. Am Freitag schlug der schiitische Ayatollah Asef Mohseni der Loya Jirga vor, die künftige Übergangsadministration mit dem Attribut "islamisch" auszustatten.

Demokratische Kräfte befürchten Verfolgungen

Dass die aus der Loya Jirga hervorgehende Regierung nun das Gütesiegel der UNO erhält, ist nur das Sahnehäubchen auf dem üblen Gericht. Besonders UNO-Sondergesandter Brahimi, der schon einmal dieses Amt innehatte und es verließ, weil die Warlords die Afghanen "als Geiseln" hielten, muss sich fragen lassen, welche Beweggründe ihn dazu trieben, vor dieser Entwicklung die Augen zu verschließen. Haben ihn die Drohungen der Mujaheddin beeindruckt, wieder "in die Berge" zu gehen, wenn die Loya Jirga nicht nach ihren Vorstellungen verläuft? Oder ist Brahimi schlicht dem Druck des USA-Republikaners Khalilzad erlegen, dessen Parteifreunden – die Geschichte zeigt es – "Stabilität" allemal mehr wert war als Demokratie. Aus dem Umfeld Zahir Shahs verlautete, Khalilzad habe den Ex-König zum Amtsverzicht gezwungen, indem er dem 87-Jährigen mit einer Einstellung der USA-Wiederaufbauhilfe gedroht und ihn gefragt habe, ob er für den "Hungertod afghanischer Kinder" verantwortlich sein wolle.

Unter alternativen politischen Kräften wächst unterdessen die Furcht vor einer Verfolgungswelle, wenn nach der Loya Jirga die Kameras abgebaut sein werden. Schon lägen beim Geheimdienst die Listen der zu Verhaftenden. Sandshar sieht seinen Namen ganz an der Spitze. Schon hat seine Frau telefonische Drohungen erhalten. Kommandant Atta schloss in seiner Rede am Freitag kategorisch aus, dass "die Linken" jemals wieder Parteien gründen dürfen. Kommentar eines Abgeordneten, der zur "Koalition demokratischer und nationaler Kräfte Afghanistans" gehört, die den Präsidentschaftskandidaten Professor Mir Mahfuz Nedai aufgestellt hatte: "Unter dem Vorwand, wir seien Kommunisten, werden sie uns nach der Loya Jirga verfolgen."

Quelle: Dieser Artikel erschien am 17. Juni 2002 in der Tageszeitung "Neues Deutschland".

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