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12. Mai 2009. Rezensionen: Geschichte & Religion - Indien Das göttliche Spiel auf Erden

Wer heutzutage versucht, den östlichen Bundesstaat Orissa, nicht gerade im Zentrum der touristischen Landkarte Indiens, mit dem Zug oder Flugzeug zu erreichen, wird im Vergleich zu anderen Landesteilen weder mit einer besonders großen noch besonders luxuriösen Auswahl an Verkehrsverbindungen konfrontiert. Als Reisender mag man sich dabei an koloniale Zeiten erinnert fühlen, als Straßen und Eisenbahnen gebaut wurden, um primär die wichtigen, außerhalb Orissas gelegenen Zentren zu verbinden. Man wollte weniger nach Orissa, sondern vielmehr schnell und günstig durch Orissa. [1] Auch wenn sich die Dinge im Zuge der gegenwärtigen Industrialisierung, der Ansiedlung von Stahlgiganten wie Posco, Jindal oder Bushan durchaus ändern mögen, so hat eine gewisse Abgeschiedenheit doch durchaus Tradition. Über Jahrhunderte erschwerten die den jetzigen Bundesstaat weitgehend umgebenen Berge Kontakte mit anderen Regionen Indiens und trugen zu einer eigenen, in mancherlei Hinsicht eher konservativen kulturellen Formation bei. Konservativ mag man hierbei durchaus im doppelten Sinne von "orthodox" einerseits und "bewahrend" beziehungsweise "an dem Hergebrachten festhaltend" andererseits verstehen.

Verteilt auf sieben Kapitel bietet das Buch von Cornelia Mallebrein und Heinrich von Stietencron umfangreiche Einblicke in das religiös-rituelle Leben in diesem Bundesstaat zwischen dem Golf von Bengalen und den Bergketten der Östlichen Ghats. Das erste Kapitel "Orissa, land of elephants" führt in die Geschichte, die bedeutendsten religiösen Strömungen und die Bevölkerungsstruktur des Landes ein, dessen berühmteste Herrscher sich auch mit dem Titel Gajapati, "Herr der Elephanten", schmückten. Chronologisch anschließend werden im zweiten Kapitel "Royal rule and divine protection" die Rajas, die Könige, und ihre Schutzgöttinnen vorgestellt. Hierbei liegt der Schwerpunkt weniger, wie gemeinhin üblich, auf einem nostalgischen Rückblick auf den Glanz vergangener Tage, sondern vielmehr auf der gegenwärtigen rituellen Praxis nach der formalen Abschaffung des Königtums. Das dritte Kapitel "When all gods meet" verdeutlicht in der Gegenüberstellung zweier populärer Rituale die religiöse Vielfalt: die dolamelana [2] als Fest für den Gott Krishna an der Küste wird kontrastiert mit dem mandei-Festival der Adivasi (Stammesbevölkerung) im Hinterland an der Grenze zum Bundesstaat Chhattisgarh. Das zentrale Element der Besessenheit im Ritual, bereits sichtbar im dritten Kapitel, bildet den Fokus des vierten Kapitels "Healing in trance". Hier verdeutlichen die Autoren die enge Beziehung zwischen Heilung einerseits und Medien, in denen sich die Götter manifestieren, andererseits. Es ist gerade diese Präsenz der Götter und vielfach auch der "wilden" Göttinnen auf Erden, die das religiöse Leben Orissas und insbesondere des Hinterlandes prägen und damit auf unmittelbarste Weise das göttliche Spiel auf Erden, wie im Buchtitel ausgedrückt, darstellen. Im folgenden fünften Kapitel "Darsan – Contact with the divine" wird das Motiv der Kommunikation mit dem Göttlichen fortgeführt und das eminent wichtige Konzept darsan, der visuelle Austausch mit den Göttern, vorgestellt. Gleichzeitig hat der Leser selbst mittels der eindrucksvollen Photographien die Möglichkeit eines Anblicks der bedeutendsten Götter der Region wie etwa Lord Jagannaths, des "Herrn der Welt"; Lord Shivas, der 64 Yoginis oder auch Lord Krishnas. Neben solchen zentralen Hindu-Göttern werden im sechsten Kapitel "Crossroads and byroads" auch die vermeintlich "kleineren" Dorf- und Weggottheiten und die ihnen dargebrachte Verehrung vorgestellt. Der mögliche Wandel von Gottheiten, etwa ihr Aufstieg vom Dschungel in die Welten des World Wide Web, kann man am Beispiel der Göttin Tarini nachvollziehen, deren Tempel sich seit den 70er Jahren zu einem der bedeutendsten Pilgerzentren der Region entwickelt hat. Im abschließenden siebten Kapitel "The Symbols and Meanings of Tribal Art" werden schließlich auch die unterschiedlichen künstlerischen Ausdrucksformen – speziell die Bronzen der Kandh und die Wandmalereien der Sora – präsentiert, allesamt auf das engste mit der Religion und Weltsicht der jeweiligen Stammesgruppe verknüpft.


In der Abfolge der Kapitel entfaltet das Buch ein beeindruckendes, farbenprächtiges Panorama des religiösen Lebens einer eher peripheren Region Indiens. Es bietet in der eigenen Ästhetik des Drucks eine geradezu poetische Momentaufnahme, ohne freilich den Wandel und die Bedrohung beispielsweise der künstlerischen Traditionen zu verschweigen. So endet das Buch denn auch eher skeptisch, was die Folgen etwa christlicher und hinduistischer Missionierung für die Sora angeht. Immanente Veränderungen, ja Gefährdungsszenarien werden zudem auch photographisch zum Beispiel in Bezug auf die Kohleförderung spürbar, wobei diese wiederum mit Hingula, Göttin des Feuers, verbunden ist und, wie die Autoren zeigen, damit die enge als auch dynamische Verflechtung zwischen Religion und Wirtschaft dokumentiert. Am Beispiel des Gottes Hanuman wird auch der politische Kontext von Religion miteinbezogen, auch wenn man sich angesichts der rapiden Industrialisierung und damit verbundener ökologischer Folgen,  sowie mit Blick auf die rezenten Pogrom-artigen Übergriffe auf die christliche Minderheit innerhalb der Stammesgesellschaft mitunter auch an anderer Stelle eine noch explizitere politische Einbettung gewünscht hätte.


Insgesamt jedoch lebt das Buch geradezu von der Kraft und Ausdrucksstärke der Photographien von Cornelia Mallebrein gepaart mit den fundierten indologischen Texten und Erläuterungen von Heinrich von Stietencron und Cornelia Mallebrein – zusätzlich ergänzt durch einen Beitrag von Angelika Malinar. Es schafft dabei eine Balance zwischen empirischen Beispielen einerseits, die dem Leser einzelne Gottheiten wie Hingula oder Patkhanda und ihre Rituale näher bringen, und einer darüberhinausgehenden Einbettung in Themenkomplexe wie Königtum oder Heilung andererseits. In dieser Kombination, mit der Fülle des Materials und abgerundet durch eine umfangreiche Bibliographie, einen Index und Kartenmaterial bieten die Autoren neue und spannende Innenansichten sowohl für interessierte Nicht-Spezialisten als auch Fachleute.

Eine große Anzahl von Photographien und Texten aus dem Buch sowie auch Kunsthandwerksgegenstände wie etwa Bronzen der Kandh sind noch bis 14. Juni 2009 in einer Ausstellung des Völkerkundemuseums der J.& E. von Portheim-Stiftung Heidelberg zu sehen.

Ausstellung
Den Spuren der Götter folgen –
Rituale und religiöse Ästhetik in Orissa, Indien

Eine Ausstellung des Völkerkundemuseums der
J.& E. von Portheim-Stiftung Heidelberg.

Die Ausstellung endet am 14. Juni 2009 mit einer Finissage.

Referenzen

[1] Siehe Ahuja, R. ’Captain Kittoe’s Road’: Early Colonialism and the Politics of Road Construction in Peripheral Orissa, In: Pfeffer, G. 2007. Periphery and Centre. Studies in Orissan History, Religion and Anthropology, New Delhi: Manohar, pp.291-318.

[2]  Alle diakritischen Zeichen entfallen aus technischen Gründen.

Quellen

Cornelia Mallebrein, Heinrich von Stietencron: The Divine Play on Earth. Religious Aesthetics and Ritual in Orissa, 2008, 256 pages, 294 colour photographs, hardcover, thread-stitching • ISBN 978-3-939381-21-1
€ 38,00.

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