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02. Mai 2008. Rezensionen: Politik & Recht - Indien Siegt Mao-Tse-Tung im Land des Mahatma?

Stärken und Schwächen der maoistischen Bewegung in Indien.

Der Autor Sudeep Chakravarty, Absolvent des Mayo College, Ajmer und des St. Stephen’s College, Delhi, arbeitete als Journalist beim Asian Wall Street Journal sowie der Hindustan Times und mit den politischen Wochenzeitschriften Sunday und India Today in Indien. Chakravarty ist Mitglied der World Future Society sowie Herausgeber von Rolling Stone in Indien. Er veröffentlichte ebenfalls den Roman "The Fish". Sein anregendes Buch „Red Sun. Travels in Naxalite Country“ stellt ein unverzichtbares Standardwerk zu einem umfassenderen Verständnis der Funktionsweise des indischen Herrschaftssystems dar. Aber es sollte auch von all jenen gelesen werden, die angesichts der hohen volkswirtschaftlichen Zuwachsraten in Indien ein einseitiges und verzerrtes Bild der indischen Wirklichkeit gerade in Deutschland und Europa in den letzten Jahren zeichneten.

Von Naxalbari zur größten inneren Bedrohung

Chakravarty legt eine inhaltlich und stilistisch vorzügliche Analyse der maoistischen Bewegung vor, die ihre Ursprünge in der 1967 vom Ort Naxalbari in West Bengal ausgehenden naxalitischen Bewegung mit ihrer legendären Führungsfigur Charu Mazumdar hat. Diese alte naxalitische Bewegung wurde im Laufe der 1970er Jahre durch den indischen Staat – unter Beteiligung der in Westbengalen regierenden Communist Party of India/Marxist (CPI-M) zerschlagen. Nach dem Tod von "mehreren Tausend idealistischen, oft naiven, bewaffneten Aktivisten" (S. 7) zersplitterten sich die Reste der Bewegung in zahllose kleinere Gruppen. Der heutigen Communist Party of India (Maoist), die 2004 aus einem Zusammenschluss verschiedenster Gruppen, so zum Beispiel People’s War (PWG) in Andhra Pradesh und Maoist Coordination Centre (MCC) in Bihar hervorging, bescheinigt Chakravarty, ebenso wie der bekannte Kolumnist Prem Shankar Jha, eine absolut neue Qualität. Auch Premierminister Dr. Manmohan Singh erkennt in dieser Bewegung die "größte innere Sicherheitsbedrohung" für den Zusammenhalt der Indischen Union.

Red Sun. Travels in Naxalite Country.
Buchcover von Sudeep Chakravartys "Red Sun. Travels in Naxalite Country" (2007). Foto: Charmaine Voll

Trotz hoher volkswirtschaftlicher Zuwachsraten in den letzten Jahren sind nicht weniger als circa 260 Millionen Menschen unter- und fehlernährt. Etwa 800 Millionen InderInnen leben von oft weniger als zwei US-Dollar täglich, nach offiziellen Angaben viele mit ganzen 20 Rupien, das heißt circa 33 Eurocents. Selbstmorde verschuldeter Bauern, eine hohe Arbeitslosigkeit sowie etwa 50 Millionen Bewohner in städtischen Slums (Jhuggi-Jhonpri/ JJ) und 200.000 ungeklärte Fälle von Gräueltaten - "Brutalitäten des Kastensystems" (S. 110) - gegen sogenannte "niedrige" Kasten, bilden einen fruchtbaren Nährboden für die sich ausbreitende maoistische Bewegung. Nach Regierungsangaben wurden seit der Unabhängigkeit zudem über 40 Millionen Menschen durch verschiedene Staudamm- und Industrieprojekte von ihrem Land vertrieben und in weniger als 25 Prozent der Fälle angemessen rehabilitiert.

Die in mehreren Landesteilen zunehmend umstrittenen "Besonderen Wirtschaftszonen" (Special Economic Zones/SEZ’s) bieten den Maoisten gute Chancen, sich wirksam in solche Auseinandersetzungen einzumischen. Ein Beispiel ist das brutal umkämpfte Nandigram in West Bengal, wo Kader der dort seit Jahrzehnten regierenden Communist Party of India (Marxist) einen regelrechten Terror gegen die sich zur Wehr setzende lokale Bevölkerung ausübten. Die CPI/M, verbal orthodox-marxistisch, faktisch aber sozial-demokratisch, bekennt sich zur Industrialisierung unter den Rahmenbedingungen einer "bürgerlich-kapitalistischen" Gesellschaft, zu der sie keine Alternative sieht. Die politische Speerspitze der Agitation gegen die SEZ in Nandigram bildete der seit mehr als einem Jahrzehnt in scharfer Opposition zur CPI/M stehende Trinamool Congress unter Führung vom Mamta Bannerjee. Islamische Gruppierungen und die auch in West Bengal aktiven Maoisten schürten zusammen mit der örtlichen Bevölkerung auf lokaler Ebene den gegen die CPI/M gerichteten Widerstand.

Orte des Geschehens und politische Ökonomie

Der vorliegende analytische Reisebericht mit implizit theoretischen Überlegungen führt den Leser in wichtige von Maoisten penetrierte Landesteile, darunter nach Dandakayana. Das Gebiet von der Größe Süddeutschlands befindet sich hauptsächlich im Unionsstaat Chhattisgarh, erstreckt sich aber auch nach Andhra Pradesh, Orissa und Maharashtra und dient mit seinen großen Wäldern der Guerilla als Rückzugsbasis. Gespräche mit maoistischen Kadern, Sympathisanten, staatlichen Vertretern und Experten in verschiedenen Landesteilen sowie die Auswertung offizieller Quellen führen kurzweilig und umfassend in die nicht mehr zu verleugnende Bedeutung des indischen bewaffneten Maoismus ein, der "Guerilla-Zonen" geschaffen hat und "befreite Zonen" sowie "kompakte revolutionäre Zonen" anstrebt.

Diese Passagen vermitteln ein authentisches Bild, ebenso wie die Schilderungen über die staatlichen Gegenmaßnahmen, wie die sogenannte Salwa Judum-Bewegung in Chhattisgarh - eine angeblich freiwillige, jedoch vom Staat finanzierte Bürgerwehr, die in der lokalen Sprache als Reinigungs-Jagd und von der Regierung als Friedens-Marsch übersetzt wird. Diese Lager erinnern an die in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts von der Regierung Süd-Vietnams errichteten "Wehrdörfer", die die Bevölkerung angeblich vor dem kommunistischen Vietcong Nord-Vietnams im Bürgerkrieg schützen sollte. Indiens Oberster Gerichtshof forderte im April 2008 die Nationale Menschenrechtskommission auf, Vorwürfe über Menschenrechtsverletzungen, auch gegenüber Frauen und Kindern, in den Salwa Judum-Lagern zu überprüfen. Ein Beispiel für ein bislang weitgehend erfolgreiches Vorgehen gegen die Maoisten ist die Sondereinsatzgruppe der Greyhounds in Andhra Pradesh. Obwohl es dort nach wie vor ein hohes maoistisches Potenzial gibt, sind die Aktivitäten der lokalen Maoisten, deren Führung sich teilweise nach Chhattisgarh und Jharkhand absetzte, erheblich zurückgegangen.

Im Gegensatz zu bewaffneten Separatisten und Autonomie-Bewegungen von Jammu & Kashmir bis nach Assam und Nagaland wollen "die indischen Maoisten kein separates Land. Sie verfügen bereits über ein eigenes" (S. 13). Chakravarty spielt hiermit auf die circa 160 Distrikte der Indischen Union an, in denen die Maoisten entweder dominieren oder sich die Macht teilen beziehungsweise das Terrain für ihre Aktivitäten vorbereiten, obwohl landesweit nur circa 3 Prozent aller Polizeistationen insgesamt betroffen sein sollen. Der Jahresbericht 2007 des indischen Innenministeriums verdeutlicht die zunehmend höheren Verluste an Menschenleben auf Seiten der staatlichen Kräfte (Central Reserve Police Force/CRPF), einzelstaatlichen Polizeien (die circa 60.000 Vakanzen in den betroffenen Staaten aufweist) und der Zivilbevölkerung im Vergleich zu den Opfern auf maoistischer Seite in Jharkhand und Chhattisgarh.

Chakravarty führt subtil in die politische Ökonomie Indiens - speziell auch bezüglich der Interessen an den beachtlichen Bodenschätzen wie Eisenerz und Bauxit - sowie in die von Hunger und Unterernährung geprägte Lebenswirklichkeit großer Teile der Bevölkerung ein. Letztere gehören, anders als die Oberschicht und Teile der expandierenden Mittelschichten, die immer offener Luxusprodukte konsumieren, nicht zu den Gewinnern der seit 1991 beschleunigten Wirtschaftsliberalisierung unter den Bedingungen der Globalisierung. Seine Angabe über angeblich 280 Millionen landlose Landarbeiter (S. 5) ist allerdings zu überprüfen.

Strukturelle Gewalt und Dissidenz

Angesichts der Leiden großer Teile des indischen Volkes gibt der Autor wie andere Fachleute auch eine unterschwellige Sympathie für viele der Anliegen dieser von der CPI (Maoist) angeführten bewaffneten Guerilla-Bewegung zu erkennen. Ihm gelingt es, die Rationalität beider Seiten, das heißt des indischen Staates auf den verschiedenen Ebenen vom Premierminister bis zum lokalen Polizeichef, sowie vom ideologischen Sympathisanten der CPI (Maoist) bis hin zu aktiven Kämpfern in Chhattisgarh oder Jharkhand, für den Leser transparent zu machen. Er vermag oft indirekt und bisweilen direkt die Widersprüche bzw. argumentativen Schwächen der bitteren Kontrahenten zu verdeutlichen.

"Gewalt ist kein Thema. Ungleichheit ist Gewalt. Die Gesellschaft selbst verkörpert Gewalt" (S. 291). Das Buch macht Größenordnungen deutlich, zum Beispiel über die von manchen Geheimdienstanalytikern - die nach Chakravarty "unfähig" oft im Dunkeln tappen (S. 4) - landesweit auf über 50.000 geschätzten Militanten. Zu ihnen gehört unter anderem die People’s Liberation Guerilla Army (PLGA), übrigens mit auffallend vielen Kämpferinnen. Der Autor spricht von "Indiens wenig verstandenem, meistens missverstandenem Krieg" und setzt dessen Größenordnungen mit seinen wachsenden Opfern auf beiden Seiten, gerade aber bei den bewaffneten staatlichen Kräften, auch in Relation zu Jammu & Kashmir sowie zum indischen Nordosten.

Chakravarty macht aber auch auf interne Dissidenz, Fraktionskämpfe sowie Kasten-Faktoren im maoistischen Lager, zum Beispiel in Jharkhand (S. 296 und 300), sowie auf die Aversion der lokalen Bevölkerung gegen aus Andhra Pradesh und Bihar stammende Spitzenkader aufmerksam. Die Parallelökonomie der Maoisten, womit die ihnen von staatlichen Stellen auf lokaler Ebene, von Bergwerk-Besitzern und Baufirmen unfreiwillig gemachten Abgaben gemeint sind, fließt immer wieder in Darstellungen ein.

Organisation und Perspektivplan für die Städte

Zwei Karten zeigen mit dem sogenannten "roten Korridor" linksextremistischer Gruppen in 2001 und in 2005 die unterschiedlich betroffenen Distrikte in den verschiedenen Landesteilen. Auf zwei weiteren Karten werden die Organisationsstrukturen (Staats-, besondere Gebiets- bzw. spezielle Zonen-Ausschüsse sowie regionale Büros) der CPI (Maoist) verdeutlicht. Die Referenzen geben einen Überblick über wichtige Quellen, darunter auch Websites, die auch für an dieser Thematik weiterhin Interessierte wichtig sind.

Der Anhang beinhaltet auf über 25 Seiten Auszüge aus dem "Urban Perspective Plan" der CPI (Maoist) aus dem Jahr 2004. Sie sind mühselig zu lesen, aber sie verdeutlichen die Kommandostrukturen sowie die systematische Strategie, um den ideologischen und bewaffneten Kampf vom Land in die zahlreichen Städte sowie großen Metropolen der Indischen Union zu tragen. Implizit verdeutlichen sie aber auch die weltanschaulichen Begrenzungen der Maoisten.

Quo vadis?

Es entbehrt nicht einer feinen Ironie, dass die indische Regierung den nepalesischen Maoisten - die nach Sicht ihrer indischen Genossen in den letzten Jahren vom richtigen Weg abwichen - zu ihrem jüngsten Wahlsieg gratulierte, gleichzeitig aber die indischen Maoisten als die größten Feinde der inneren Sicherheit bekämpft. Die indische Regierung leugnet offiziell jegliche Kontakte zwischen den nepalesischen und indischen Maoisten, obwohl es dazu auch grundsätzlich andere Auffassungen gibt (S. 265/66). Die Maoisten Nepals nahmen unter anderem an dem zweiten Jahrestreffen des Coordination Committee of Maoist Parties and Organizations of South Asia (CCOMPOSA) im August 2002 teil (S. 93-95).

Der frühere Verteidigungs-, Industrie- und Eisenbahnminister sowie Altsozialist George Fernandes meint: "Die politische Klasse hat keine Antwort auf die Naxaliten." Ein führender indischer Menschenrechtsaktivist postulierte kürzlich, dass die indischen Maoisten nach dem Vorbild ihrer nepalesischen Genossen "die indische Hauptstadt in 2020 übernehmen" würden. Dies ist natürlich, ohne eine bislang realistische Basis, Spekulation und vielleicht auch Wunschdenken.

Vielleicht weniger als die Maoisten, die man auch mit ihren internationalen Querverbindungen zum Beispiel zu den Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE) glaubt ausrechnen und in Schach halten zu können, bereiten dem indischen Sicherheitsestablishment derzeit eher die neuen Netzwerke islamischen Terrorismus innerhalb Indiens zunehmend Kopfzerbrechen.

Der indische Maoismus wird sich in den nächsten Jahren an seinem selbst erklärten Ziel messen lassen müssen, den politischen und möglicherweise sogar bewaffneten Kampf in die schnell wachsenden Metropolen und großen Städte des indischen Subkontinents tragen zu können. Chakravarty gelingt es, mit seinen differenzierten Beobachtungen und anregenden Fragestellungen einen wirklichen Beitrag zum Verständnis dieser komplexen Materie zu leisten. Die Thematik wird wohl noch für viele Jahre eine wichtige Rolle in der indischen Innenpolitik spielen und indirekt eine längst überfällige und grundlegende gesellschaftspolitische Reform-Agenda mitbestimmen, wenn die etablierte politische Klasse nicht Gefahr laufen will, zunehmend isoliert zu werden.

Dieses hervorragende Buch hebt sich wohltuend auch von bekannten deutschen Autoren mit ihren fast "Kaugummi artigen" Betrachtungen zur indischen Demokratie ab, die dann wiederum allzu gerne von hochrangigen politischen Besuchern in Indien - oft zum Leidwesen ihrer indischen Partner, die das in dieser Form bald nicht mehr hören können - wiederholt werden. Chakravarty leistet damit auch einen wichtigen Beitrag zu einer realistischen Demoktrie-Diskussion in und über Indien.

Die gesellschaftspolitischen Bedingungen für ein weiteres Anwachsen des indischen Maoismus und verschärfte Formen der Auseinandersetzung sind in Zukunft unvermindert gegeben. Chakravartys realistische Darstellung wichtiger Akteure auf beiden Seiten analysiert eine bislang in dieser Klarheit vermisste wichtige Dimension des indischen Herrschaftssystems. Vielleicht wird Mao Tse Tungs Gedankengut im Land des Mahatma nicht unbedingt siegen, für genügend Unruhe wird es auf jeden Fall weiterhin sorgen.

Quellen

Chakravarty, Sudeep (2007): Red Sun. Travels In Naxalite Country, New Delhi/ London/ New York: Penguin/Viking, ISBN-13: 978-0-67008-133-2 und ISBN-10: 0-67008-133-7, 352 Seiten, 495 Rs.

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